Arno Camenisch: „Herr Anselm“

Arno Camenisch liest in Brig aus seinem neuen Buch Herr Anselm.
(Archivbild: Kurt Schnidrig)

Vor Jahresfrist hatte Arno Camenisch das Oberwalliser Publikum in Brig mit Passagen aus seinem Büchlein „Der letzte Schnee“ unterhalten. Mittlerweile ist dieses Buch zum „Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels 2018“ erklärt worden. Der melancholisch-humorvolle „Camenisch-Sound“ ist Kult, ebenso die fast schon schmucklosen, kleinen, dünnen, oft genau 100 Seiten umfassenden Camenisch-Büchlein. Sein neustes Werk heisst „Herr Anselm“, und darin schreibt Camenisch fort, was im Schweizerland derart gut ankommt. Wieder ist es eine skurrile, eigenwillige, melancholische Geschichte von einer kleinen Welt, die verschwindet, eine Geschichte von Verlust und Vergehen.

„Herr Anselm“ – Abstract. Wie auf einem „Schiff“ war Herr Anselm, der langjährige Schulhaus-Abwart, der heimliche Kapitän und Dirigent in „seiner“ Schule, die nun, nach 33 Jahren, geschlossen werden soll. Gerade wieder ist ein heisser und trockener Sommer zu Ende gegangen, und es sollten sich die Tore des Schulhauses öffnen. Als Leser finden wir uns eines Nachmittags zu Beginn des neuen Schuljahres auf dem Friedhof wieder. Herr Anselm führt dort einen Monolog mit seiner verstorbenen Frau, und nur ihr erzählt er von seiner kleinen Welt, die nun für immer verschwinden soll. Es sind die Erinnerungen, die ihn mal traurig, mal melancholisch, mal witzig, mal enttäuscht und auch wütend in ein Wechselbad der Gefühle stürzen.

Auf Sand gebaut. Nichts währt ewig, alles ist vergänglich, alles ist nur auf Sand gebaut. Wie eine traurige Melodie legt der Autor die uralten Themen von Abschied und Verlust auch dieser Geschichte zugrunde. Schon bald schwelgt der Leser in nostalgisch-sentimentaler Stimmung, und man erschrickt, dass sowas manchmal auch noch lustvoll sein kann. Jede und jeder fühlt sich angesprochen, sind wir doch alle immer und überall mittendrin in diesem ständigen Werden und Vergehen, in diesem ewig drohenden Untergang unserer anarchischen Weltordnung. Und trotzdem gilt es durchzuhalten, wenn möglich mit einem ironischen Lächeln: „Dreiunddreissig Jahre bin ich bereits Abwart an dieser schönen Schule, dreiunddreissig, sagt er und lächelt, und am Ende wird man gekreuzigt…“ (Herr Anselm, S.19). Als Leser erwischt man sich dabei, bei Herrn Anselm, der wie ein Kapitän sein Flaggschiff als Letzter zu verlassen hat, eine beginnende Depression zu diagnostizieren, fast so, als wäre man dessen Psychiater, auch wenn da noch ein letztes Aufbäumen festzustellen ist: „Und wenn sie immer noch meinen, unser schönes Flaggschiff müsse geräumt werden, ja, dann gehen wir in Streik…“ (S.21).

Vertrieben aus dem Paradies. Es scheint, als würden die Figuren aus den Geschichten des Autors Camenisch einem Aphorismus nachleben, den der Dichter Jean-Paul (1763-1825) bereits vor zweihundert Jahren erdichtete. Jean-Paul schrieb: „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“ Zu Beginn der Erzählung droht der Verlust ebendieser Erinnerung: „Er giesst das Grab, mit der Schule stirbt auch die Erinnerung“ (S.23). Der allwissende Erzähler möchte uns weismachen, dass nun alles aus und vorbei ist und legt damit eine falsche Fährte, denn Herr Anselm lässt sich nicht aus dem Paradies der Erinnerungen vertreiben. Er hat vorgesorgt, hat sich unten in seiner Werkstatt ein Foto-Archiv angelegt. In jedem der vergangenen dreissig Jahre kam ein neues Foto hinzu, „das ist das Hirn der Schule“, und eine Liste mit den Namen der Kinder hat er ebenfalls beigelegt, der Herr Anselm, und zwar mit Bleistift, „das ist nämlich das einzige, was archivtauglich ist…“ (S.23).

Das Unbegreifliche zu begreifen versuchen. Die Figuren in den Geschichten des Autors Camenisch fügen sich in ihr Schicksal, sie nehmen gottergeben an, was ihnen zugedacht ist. Auch wenn es schwerfällt. Denn so eine Schule, die sei doch einmal der Stolz aller Dorfbewohner gewesen. Und da werden eigene Kindheitserinnerungen wach, auch jene der Leserinnen und Leser, denn alle sind wir früher einmal durch die Portale eines Schulhauses zaghaften Schrittes gelaufen, da gibt es keine und keinen unter uns, der hier nicht auch eine Niederlage erlitten oder aber auch einen Erfolg gefeiert hätte, und bestünde dieser auch nur daraus, am jährlichen Schultheater als Schauspieler mitgewirkt zu haben. Und jetzt soll Schluss sein? Jetzt soll das Schulhaus, der Hort aller gesammelten Schul- und Kindheitserinnerungen, vom Erdboden verschwinden? Es bleibt eine einzige Therapiemöglichkeit gegen all die Verlustängste, die da aufkommen: Schreiben als Therapie. Herr Anselm am Grab seiner verstorbenen Frau: „Ich habe es dann aufgeschrieben, nachdem du gestorben warst und ich nicht wusste, wohin mit all der Traurigkeit, da haben mir die Marina und der Giuseppe gesagt, ich soll schreiben (…) aber ich müsse das von Hand machen, damit die Traurigkeit langsam in die Hände übergeht“ (S.27).

Das Leid von der Seele schreiben. Der Schulhausabwart Herr Anselm stimmt in seinem Monolog am Grab seiner Frau ein himmeltrauriges Requiem an. Er sucht nach den Ursachen nicht nur seines persönlichen Leids, sondern auch des Leids eines ganzen Dorfes, und er versucht das Leid festzumachen: „Und für den Gmaindpräsidenten und seine Ontourage hätte es sicher auch noch ein bisschen Platz auf dem Mond, anstatt dass sie uns die schöne Schule schliessen wollen. Dort könnten sie dann machen, was sie wollen, das ist dann nicht mehr unsere Suppe“ (S.29). Das Leid des Herrn Anselm ist auch das Leid der vielen Kinder, die in diesem Schulhaus vor allem eins gelernt hatten: das Scheitern, und dabei sei das Scheitern doch eine Kunst für sich. Richtig lernen liesse sich eh nur im wahren Leben, bekennt Herr Anselm etwas widersprüchlich und fatalistisch, und dazu gehöre die Liebe: „Ja, ja, eine Sprache lernt man am besten über die Liebe, nur dass einem davon meistens nur die Sprache bleibt“ (S.53).

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Das Schultheater ist es, das Herrn Anselm träumen lässt, und das ihn vergessen lässt, was droht, nämlich der Abriss des Schulhauses, dem mangels Kindern die Schliessung droht. Herr Anselm: „Dieses Jahr jedenfalls werden wir noch ein viel schöneres Spektakel auf der Bühne feiern, grad aus Trotz, wenn die Herrschaften von der Gemeinde die Schule schliessen wollen…“ (S.74). Herr Anselm flüchtet sich ins Erzählen, er erzählt vom Theater, das sie jedes Jahr in diesem Schulhaus aufgeführt hätten, und er, der Abwart, der Herr Anselm, sei doch Jahr für Jahr fürs Licht zuständig gewesen, denn „das Licht darf man nämlich nicht unterschätzen, damit kannst du ziemlich was herausholen, das sieht man bei den Zauberern, wenn der Lichtmeister einen schlechten Tag einfährt, ja, dann Gutnacht, dann fliegt der ganze Laden auf…“ (S.74).

Tragikomik. Mit seinen tragikomischen Geschichten wie der von Herrn Anselm begibt sich der Autor Arno Camenisch in die Spur eines Urgesteins der Schweizer Literatur. Friedrich Dürrenmatt war es, der über diese Verbindung von Tragischem und Komischem schrieb, sie „sei die einzig mögliche dramatische Form, heute das Tragische auszusagen“. Denn die Tragödie setze, wie Dürrenmatt in seinem Text Theaterprobleme von 1955 sagt, „Schuld, Not, Mass, Übersicht, Verantwortung“ voraus, um ihr Ziel, die Läuterung des Einzelnen, zu erreichen. In der Unübersichtlichkeit der Welt, so Dürrenmatt, werde Schuld verwischt und abgeschoben, der Moderne komme nur die Groteske bei.

Herr Anselm als Identifikationsfigur. Trotz aller menschlicher Tragik schwingt in „Herr Anselm“ auch immer ein knochentrockener Humor mit. Dieser lässt zwar ansatzweise eine Komik aufscheinen, die aber dann doch wieder augenblicklich in Traurigkeit und in Sentimentalität absinkt. Die bei Dürrenmatt und sehr viel früher auch schon bei Plautus (254-184 v. Chr.) in seinem Amphitruo grundgelegte Verbindung des Tragischen und des Komischen, verleiht nun auch den Figuren des Autors Camenisch – wie jener des Herrn Anselm – einen zutiefst gespaltenen anarchischen Charakter, der berührt und bewegt, und dem die Sympathien einer breitgefächerten Leserschaft zufliegen.

Text und Foto: Kurt Schnidrig