Wohin geht die Reise?

In Frankfurt am Main wurde das Buch gefeiert. Was bewegt die Leserinnen und Leser?
(Fotos: Kurt Schnidrig)

Um es gleich vorwegzunehmen: Der Belletristik fehlt zurzeit ein Megaseller, so ein länderübergreifender Bestseller, ein Abräumer im Stile eines „Shades of Grey“. Gut, ich kann verstehen, wenn das Fehlen eines aktuellen Erotik-Beststellers den Leserinnen und Lesern mit höheren Ansprüchen nur ein spöttisches Lächeln entlockt. Das Lächeln könnte einigen Belletristik-Fans allerdings im Halse stecken bleiben, wenn man die Umsatzzahlen beizieht, die anlässlich der Frankfurter Buchmesse präsentiert wurden.

Erfreuliche Umsätze, aber… In unseren Nachbarländern Frankreich und Italien sind erfreulich deutliche Umsatzschübe auf dem Buchmarkt festzustellen. Allerdings sind es Fach- und Sachbücher, vor allem auch Ratgeber, die in Frankreich gleich um 17 Prozent zulegten, in Italien immerhin noch um fast 8 Prozent. Echte Abräumer bei diesen Non-Fiction-Titeln waren „Passions“ von Frankreichs Ex-Präsident Nicolas Sarkozy und „Becoming“, die Biografie von Ex-US-First-Lady Michelle Obama. In unserem südlichen Nachbarland Italien sind es die Social Media-Stars und Influencer, die auch auf dem Buchmarkt den Ton angeben, Valerio Mazzei und Giulia De Lellis etwa. Doch gibt es einen Überflieger, der weltweit den Sachbuchmarkt dominiert, es ist dies der Israeli Yuval Noah Harari, der den (Sachbuch)-Markt seit Jahren aufmischt.

Eine Tafel an der Frankfurter Paulskirche erinnert an die Rede von US-Präsident John F. Kennedy: Haben wir unsere Ideale und Visionen verloren?

Das erfolgreichste Buch. „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ von Yuval Noah Harari ist das wohl erfolgreichste Buch der vergangenen Jahre, es führt auch aktuell die Bestenlisten an. „Niemand soll von dieser unserer atlantischen Generation sagen, wir hätten Ideale und Visionen der Vergangenheit, Zielstreben und Entschlossenheit unseren Gegnern überlassen.“ So steht’s geschrieben auf der Tafel, die nach der epochalen Rede des US-Präsidenten John F. Kennedy in der Paulskirche zu Frankfurt hier angebracht wurde (Bild oben). Kennedy sprach diese Worte am 25. Juni 1963 in Frankfurt, am 22. November desselben Jahres wurde er ermordet. Es scheint als seien mit ihm auch die Ideale und Visionen einer ganzen Generation untergegangen. Das Buch des Israeli Noah Harari erzählt kurz und spannend die Geschichte der Menschheit und kommt zum Schluss: Mit den Idealen und Visionen unserer Gesellschaft ist es nicht besonders weit her. Harari widerspricht damit den epochalen Worten, die Kennedy vor mehr als fünfzig Jahren in der Frankfurter Paulskirche an die Welt richtete. Leider hat die Herrschaft des Homo sapiens bislang wenig hinterlassen, auf das wir uneingeschränkt stolz sein können.

Eine kurze Geschichte der Menschheit. Yuval Harari, geboren 1976, ist Professor für Geschichte an der Hebrew University of Jerusalem. Sein Buch Eine kurze Geschichte der Menschheit wurde bei seinem Erscheinen in Israel 2011 zum Nr. 1-Bestseller und ist es seither geblieben. Dabei ist das Buch eine Bankrott-Erklärung an unsere Generation und an die Menschheit schlechthin. „Vor 70’000 Jahren war der Homo sapiens ein unbedeutendes Tier, das in einer abgelegenen Ecke Afrikas seinem Leben nachging. In den folgenden Jahrtausenden stieg es zum Herrscher des gesamten Planeten auf und wurde zum Schrecken des Ökosystems. Heute steht es kurz davor, zum Gott zu werden und nicht nur die ewige Jugend zu gewinnen, sondern auch göttliche Macht über Leben und Tod“, resümiert Yuval Harari am Schluss seiner kurzen Geschichte der Menschheit (S. 507).

Wohin soll die Reise gehen? Leider habe die Herrschaft des Sapiens bislang wenig hinterlassen, auf das wir wirklich stolz sein können, schreibt Harari. Wir haben uns die Umwelt untertan gemacht, unsere Nahrungsproduktion gesteigert, Städte gebaut, Weltreiche geründet und Handelsnetze errichtet. Aber haben wir das Leid in der Welt gelindert? Trotz unserer erstaunlichen Leistungen haben wir nach wie vor keine Ahnung, wohin wir eigentlich wollen, und wir sind so unzufrieden wie eh und je. Wir haben grössere Macht als je zuvor, aber wir haben noch immer keine Ahnung, was wir damit anfangen wollen.

Yuval Harari schreibt Klartext. Eine Passage aus dem Megaseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ ist mir in Erinnerung geblieben, gerade in Zeiten, in denen politische Parteien das Blaue vom Himmel herunter versprechen und behaupten, sie seien unsere Zukunft. Auch ihnen seien Yuval Hararis Worte ins Pflichtenheft geschrieben: Die Menschheit scheint verantwortungsloser denn je. Wir sind Selfmade-Götter, die nur noch den Gesetzen der Physik gehorchen und niemandem Rechenschaft schuldig sind. Und so richten wir unseren Mitlebewesen und der Umwelt Chaos und Vernichtung an, interessieren uns nur für unsere eigenen Annehmlichkeiten und unsere Unterhaltung und finden doch nie Zufriedenheit. Gibt es etwas Gefährlicheres als unzufriedene und verantwortungslose Götter, die nicht wissen, was sie wollen? (Harari, S. 508)

Text und Fotos: Kurt Schnidrig