Fantasy mit Joanne

Phantasievoll, überraschend und gehaltvoll war die Vernissage von Joanne Gattlens Fantasyroman, hier mit Mama Katja und Moderator Kurt Schnidrig.
(Fotos: Noemi Schnydrig)

Joanne ist auch der Vorname ihres grossen Vorbilds, der Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling. Doch Joanne Gattlen hat als Fantasy-Autorin ihren eigenen Stil gefunden. Ihr Fantasy-Roman „Meravella“ handelt nicht von Monsterbegegnungen, nicht von Schwertkämpfen und nicht von epochalen Schlachten. Die Feen sind es, welche als einzig wahre Fantasy-Figuren ihren Roman bevölkern.

Die Quest. Joanne Gattlen hat in ihrem Romanerstling auf Anhieb vieles richtig gemacht. Dazu gehört, dass sie die wesentlichen Elemente des Fantasyromans erkannt hat und in „Meravella“ auch korrekt anwendet. Dazu gehört insbesondere die „Quest“, das ist die klassische Erzählstruktur, welche jeden guten Fantasyroman auszeichnet. Die Quest, das ist die Heldenreise, welche Protagonisten in Fantasyromanen antreten. In „Meravella“ ist es die 16-jährige Haley, die ihre Sommerferien bei ihren Grosseltern in einem kleinen irischen Dörfchen verbringen soll. Und dies, obschon sie sich vor fünf Jahren geschworen hat, nicht mehr dorthin zurückzukehren. Auf ihrer „Quest“ ändert sich ihr Leben schlagartig. Plötzlich findet sie sich in einer Welt wieder, in der die Existenz eines ganzen Volkes auf dem Spiel steht.

Ein epischer Handlungsbogen. Wie in Fantasyromanen üblich, ist auch in „Meravella“ der Handlungsbogen zumeist episch angelegt und bezieht die ganze Welt der Ereignisse mit ein. Zusätzlich bringt die Autorin viel emotionale Spannung hinein, indem sie eine zarte Liebesgeschichte einfliessen lässt. Vor fünf Jahren hatte nämlich die Protagonistin Haley ihren besten Freund Dylan in diesem verträumten irischen Dörfchen zurücklassen müssen. Doch Haley kann Dylan nicht ewig aus dem Weg gehen. Muss sie sich eines Tages ihrem besten Freund und somit ihrer eigenen Vergangenheit stellen? Die Antwort auf diese Frage bestimmt die Finalspannung, die sich erst auf den letzten Seiten des 270-seitigen Taschenbuchs auflöst.

Autorin Joanne Gattlen las und sang zur Gitarre anlässlich der Buchtaufe in der ZAP Brig, hier im Gespräch mit Moderator Kurt Schnidrig, der die Buchtaufe mit literaturwissenschaftlichen Exkursen ergänzte.

Auch ein Bildungsroman? Die „Quest“, zu deutsch „Suche, Suchmission“, der Protagonistin Haley in „Meravella“ beinhaltet auch Elemente des Bildungsromans. Ursprünglich bezeichnet die „Quest“ in der Artus-Epik die Heldenreise oder Aventiure eines Helden, in deren Verlauf er verschiedene Aufgaben löst, Abenteuer besteht, Feinde besiegt, Objekte findet, Schwierigkeiten überwindet und dadurch Ruhm und Erfahrung erntet und schlussendlich sein angestrebtes Ziel erreicht. All das lässt sich auch bei der Ich-Erzählerin Haley in „Meravella“ festmachen. Im Zentrum der Erzählung steht eine einzelne Heldin, die sich mit einem Begleiter zusammentut, in der vorliegenden Story ist dies Dylan. Von Haley und Dylan und von deren gemeinsamem Handeln hängt das Schicksal des fiktiven Handlungsortes ab. Allerdings ruhen die Figuren in „Meravella“ in sich, sie entwickeln sich nicht von einem „Taugenichts“ sprunghaft zu einem überlegenen Helden, wie das häufig in ähnlich gelagerter Fantasyliteratur der Fall ist. Der Fantasyroman „Meravella“ sprengt somit die Grenzen des eigenen Genres nicht.

Eine Rückkehr in die Frühromantik. Joanne Gattlens „Meravella“ wagt einen mutigen Rückzug zu den Anfängen der Fantasyliteratur. Sie teilt die philosophisch motivierte Begeisterung für übersinnliche Welten, so wie sie in der Zeit der Phantastik des 19. Jahrhunderts gelebt wurde. Damals entstanden Volksmärchensammlungen, Kunstmärchen und Bildungsromane mit phantastischen Komponenten, denen sich „Meravella“ nahtlos anschliesst. Im 19. Jahrhundert nahmen Autoren wie Novalis („Heinrich von Ofterdingen“), Ludwig Tieck („Die Elfen“) und Friedrich de la Motte-Fouqué („Undine“) strukturell und inhaltlich wesentliche Elemente der Fantasy-Literatur vorweg. Besonders der zentralen Forderung nach einer romantischen Universalpoesie, die eine Vermischung der literarischen Gattungen zulässt, folgt auch Joanne Gattlens Fantasyroman „Meravella“. Ihr Werk lässt sich aufgrund des Personals (realistisch handelnde Menschen in Zusammenspiel mit Feen) dem Schreibstil eines Ludwig Tieck und dessen Hauptwerk „Die Elfen“ zuordnen.

Tolkiens Fantasy-Theorie in „Meravella“. Als eigenes Literaturgenre entstand Fantasy erst im 20. Jahrhundert. Als ihr Begründer gilt J.R.R. Tolkien („Der Herr der Ringe“). Mit seinen Werken löste er in den späten 1960er-Jahren einen regelrechten Fantasy-Boom aus. Viele Autoren nahmen sich Tolkien als Vorbild. In diesen Kanon stimmt auch die Jungautorin Joanne Gattlen mit ein. Allerdings geht Joanne Gattlen viel weniger weit als Tolkien, insbesondere was ihre rührend sparsame Einführung von phantastischen Settings und auch von phantastischem Personal für ihren Roman anbelangt. Joanne Gattlen hebt sich mit „Meravella“ wohltuend vom Kanon all jener Autoren ab, die im Gefolge von Tolkien diesen noch zu überbieten suchten, ich denke dabei etwa an Marion Zimmer Bradley und Stephen R. Donaldson in den 1970er-Jahren, Terry Brooks und Raymond Feist in den 1980er-Jahren.

„Meravella“ eröffnet neue Möglichkeiten. Zweifellos erfreut sich Fantasyliteratur wachsender Beliebtheit. Das Genre hat sich in den vergangenen Jahren erfolgreich gegen den Vorwurf des Trivialen gewehrt. Den Vorwurf, dass Fantasy eine vereinfachend strukturierte Gesellschaft darstellt und somit die gesellschaftlichen, politischen oder kulturellen Realitäten und Probleme unserer Zeit ausblendet oder verdrängt, diesen Vorwurf muss sich allerdings auch das Werk „Meravella“ gefallen lassen. Hier eröffnet sich der Autorin Joanne Gattlen zweifellos noch einiges an Entwicklungspotenzial. Zeitgenössische Fantasy greift nämlich immer häufiger auch aktuelle Fragestellungen (Krieg, Nationalismus, religiöser Extremismus) auf.

Vielschichtigere Behandlung der Fantasy-Motive. Zu Beginn unseres Jahrhunderts erlebte die Fantasy einen neuen Aufschwung. Es sind vor allem junge Frauen, die für Harry-Potter-Bücher und -Filme sowie Herr-der-Ringe-Verfilmungen schwärmen. Aus den USA schwappte zudem in den 2000er Jahren eine wahre Fantasywelle auf Europa. Die Neuverfilmungen der Chroniken von Narnia oder die Buchreihen Percy Jackson und Eragon waren die Auslöser dieser Fantasywelle, auf der nun auch Joanne Gattlens „Meravella“ balanciert.

Wie weiter nach „Meravella“? Ob Joanne Gattlen sich nun weiterhin der Rückwendung zur Frühromantik verpflichten, oder ob sie sich populären Subgenres zuwenden will, das ist eine Entscheidung, der sie sich stellen muss. Spektakulär bieten sich Subgenres an wie beispielsweise die Dark Fantasy oder die aktuell vorherrschende High Fantasy. Durch den Verzicht von Genrekonventionen und durch eine gezieltere und noch vielschichtigere Behandlung der Fantasymotive könnte und müsste sie sich wohl noch mehr spezialisieren. Als Wegbereiter der High Fantasy haben insbesondere George R.R. Martin, Steve Erikson und J.V. Jones viel Spannendes aufgegleist.

Joanne Gattlen: Meravella. Ein unerwartet magischer Sommer. Lektorat: Kurt Schnidrig. Rotten Verlag 2019, 270 Seiten.

Erfüllung einer Sehnsucht. Fantasy-Literatur zeigt uns Möglichkeiten zur Flucht aus einem grauen und oftmals lieblosen Alltag auf. Tolkien verstand die Fluchtmöglichkeit, die das Genre Fantasy bietet, als Möglichkeit zur Erfüllung von Sehnsüchten und Befriedigungen, die die reale Welt nicht bieten kann. Tolkien bescheinigte der Fantasy-Literatur, dass sie der „Wiedererlangung eines klaren Blicks“ und der „Einnahme einer neuen Perspektive“ dient. Eine der wichtigsten Funktionen von Fantasy jedoch ist die Rückkehr zu dem im Mythos und im mythischen Denken verankerten Zustand der Verzauberung. Mit „Meravella“ liefert die Jungautorin Joanne Gattlen einen grossartigen Beitrag hierzu.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig