Die Zeit vergeht wie im Flug

In ihrem Buch „Über den Simplon“ beschreibt Mirjam Britsch, wie der Alpenflug von Chavez zu einem Wandel im Wallis beigetragen hat. (Fotos: Kurt Schnidrig)

Im Sommer 1910 schrieb die „Mailänder Flugschau“ einen waghalsigen Wettbewerb aus. Zum ersten Mal in der Geschichte sollte ein Flugzeug die Alpen überfliegen. Als Zielort ist der Platz vor dem Mailänder Dom vorgesehen, gestartet werden soll in Brig. Mit dem Flugabenteuer bricht die mondäne Welt in das beschauliche Bergtal ein. Das Spektakel lockt Touristen aus aller Welt in die dörfliche Enge. Die Menschen am Brigerberg nehmen sich den Abenteurer und Pionier Geo Chavez zum Idol , um sich von der Willkür der Dorfkönige zu befreien und sich wegzuträumen in die grosse weite Welt. Die Zeit im Wallis vergeht wie im Flug, der Alpenflug von Geo Chavez wirkte dabei wie ein Beschleuniger der Moderne.

Die Chavez-Story mit Perspektivenwechsel. Das Flugabenteuer von Geo Chavez ist bereits sattsam beschrieben in Büchern, Theaterstücken und Filmen. In „Über den Simplon“ nimmt Autorin Mirjam Britsch jedoch einen Perspektivenwechsel vor, der die Leserschaft dazu einlädt, die Chavez-Story, und insbesondere deren Auswirkungen auf das Wallis und auf die Menschen am Brigerberg zu hinterfragen. Der Alpenflug liefert gewissermassen den roten Faden, die Autorin erzählt jedoch aus der Perspektive der Dorfbevölkerung von Ried-Brig und Termen.

Sehnsucht und Fernweh. Der Protagonist in Britschs Roman heisst Edi. Zusammen mit seiner Schwester Dolores und mit dem alten Vater lebt Edi in Ried-Brig und fristet ein wenig erfüllendes Dasein. Als dann abenteuerliche Gestalten aus aller Welt mit ihren phantastischen Flugapparaten am Brigerberg auftauchen, trifft auch eine so ganz ungewohnte und fremdländische Lebensart auf die bäuerliche Dorfkultur, und das zauberhaft Fremdländische findet bei Menschen wie Edi, bei Menschen voller Fernweh und voller Sehnsucht nach Selbstverwirklichung, offene Herzen vor. Edi könnte mehr und er möchte auch mehr als das, was ihm die ländliche Idylle mit ihrer Keingeistigkeit zugesteht. Doch den pflegebedürftigen Vater und die Schwester alleine zurücklassen, das bringt er denn doch nicht übers Herz. Und ausserdem: Welche Perspektiven hätten sich Träumern wie ihm damals eröffnet? Vielleicht hätte er Priester werden können. Die „Mehrbesseren“ konnten ein Jus-Studium ins Auge fassen. Oder als Frau war der Eintritt ins Kloster ein Schritt, der respektvolle Anerkennung versprach. Doch mehr ging nicht. Gefangen in dörflicher Enge und beaufsichtigt von der gestrengen Obrigkeit musste Selbstverwirklichung, in welcher Form auch immer, ein Traum bleiben.

„Immer ist es das sich verändernde Wallis, das mich beschäftigt“, sagt Mirjam Britsch.

Die weite Welt im engen Tal. Mirjam Britsch liegen die historischen Themen. Ihr Historischer Bergkrimi „Endstation Belalp“, der 2009 erschien, begeisterte Generationen von lesefreudigen jungen Leuten. Auch hier ist es die grosse weite Welt, die in die beschauliche Bergwelt einbricht und für Unruhe sorgt. Im Sommer 1862 verlegt der London Alpine Club seine jährliche Versammlung ins Hotel Belalp beim Aletschgletscher. Als ein Professor das Zeitliche segnet, beginnt vor exotischer Bergkulisse ein klassisches Whodunit-Spektakel, welches Ambitionen und Kulturen aufeinanderprallen lässt. Auch hier: Die weite Welt bricht ins enge Tal ein und weckt bei den Berglern neue Begehrlichkeiten, die mondäne Welt trifft auf ländliche Beschaulichkeit und beschleunigt den Wandel hin zu einer neuen Zeit. „Wallis im Wandel“ ist ein Standardwerk aus der Feder der Autorin und auch ihr neuster Roman „Über den Simplon“ folgt dieser Thematik. Die Ferne bricht ein, eine neue Zeit kündigt sich an. Der Flugverkehr als neues Transportmittel hat die Weltgeschichte ebenso verändert wie die Lokalgeschichte im kleinen Oberwalliser Dorf Ried-Brig.

In „Wallis im Wandel“ (1994), „Endstation Belalp“ (2009) wie auch im aktuellen Buch „Über den Simplon“ ist das sich verwandelnde Wallis ein roter Faden.

Dorfgeschichten vom Brigerberg. In Dörfern wie Ried-Brig, da regieren Dorfkönige, da kumulieren sich Kleinigkeiten zu lebenslangen Streitereien, es sind dies auch Stoffe, aus denen Romanliteratur sich nährt. Edi, seine Schwester Dolores und der Vater, dazu eine Tante als Klosterfrau und ein Onkel, der in Paris ein Hotel führt, das Personal in „Über den Simplon“ ist zwar überschaubar, es ist aber ein Mikrokosmos, der exemplarisch die Auswirkungen aufzeigt, welche der Einbruch des Fremden und Fernen ins Heimische und Gewohnte auslöst. Als Chavez und seine Entourage im Frühsommer 1910 das Dorf Ried-Brig am Simplon mit ihren abenteuerlichen Flugapparaten überfallen, muss sich eine althergebrachte dörfliche Kultur beweisen.

Schon früh sei auch sie „weggeflogen“, erzählt die Autorin.

Mirjam Britsch persönlich. Bei einer Tasse Kaffee haben wir uns im symbolträchtigen Restaurant Simplon in Ried-Brig getroffen. Ob sie als Heimwehwalliserin auch „weggeflogen“ sei, wollte ich von ihr wissen. Was sie persönlich denn noch mit dem Brigerberg verbinde? Sie habe ihre heimatlichen Wurzeln durch das Schreiben behalten können, erklärt sie. Schon früh war sie auch selber der dörflichen Enge am Brigerberg entflohen. Mit sechzehn verbrachte sie ein Jahr in Amerika, ab neunzehn wohnte sie bereits auswärts. 26 Jahre lang war Bern ihr Wohnort, zurzeit lebt sie in Zug. Sie ist Unternehmensberaterin im Bereich Führungskräfte-Assessments und Mitinhaberin einer Firma. „Jede Heimkehr vermittelt ein ganz spezielles Gefühl, es ist eine Rückkehr zu den Wurzeln“, verrät sie mir.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig