Zur Strafe: Moskau einfach!

Oskar Freysingers neu aufgelegter Roman heisst „Rote Asche“. (Archivbild: Kurt Schnidrig)

Mit seinem Buch „Rote Asche“ tingelt Oskar Freysinger derzeit durch die Buchhandlungen, auch im Oberwallis. Ich habe mir mein Exemplar in einer Briger Buchhandlung erstanden. Warum ich das Bedürfnis hatte, mich bei der sympathischen Verkäuferin – sie ist gleichzeitig auch Belletristik-Verantwortliche und wohl die beste Kennerin aktueller Bestseller – für meinen Bücherkauf zu entschuldigen, ist mir erst im Nachhinein klar geworden. Ganz einfach deshalb, weil der aus meiner Sicht ganz hervorragende Schriftsteller Freysinger nicht zu haben ist ohne diese Politik, die ich abgrundtief hasse und verachte. Dabei hat Freysinger gewiss recht, was seine Vorbehalte gegenüber der alten Sowjetunion anbelangt. Schon vor mehr als vierzig Jahren hat uns unser geschätzter und hochverehrter Schuldirektor Hans Venetz in den Briger Schulen vor der „roten Gefahr“ gewarnt, und später, am Briger Jesuitenkollegium Spiritus Sanctus, drohte man uns aufmüpfigen 68er-Studenten unverholen mit der Höchtsstrafe: Wenn Du nicht parierst, dann kiegst du ein Billet Moskau einfach! In diese (rote) Kerbe haut Freysinger im Buch „Rote Asche“.

Die Hure Politik. Warum Männer zu Huren gehen, dürfte wohl klar sein. Sie erhoffen sich einen bombastischen Orgasmus. Das orgiastische Erlebnis klingt jedoch, so habe ich mir sagen lassen, so schnell wieder ab wie es hochgestiegen ist, und zwar deswegen, weil es ohne Liebe vermittelt wurde. Warum mein früherer Arbeitskollege Oskar immer noch dieser Hure Politik huldigt, die ihm eigentlich nur Liebesleid beschert hat, das ist eigentlich unverzeihlich, denn ohne sie wäre er ein grossartiger Literat und ein wunderbarer Schriftsteller. So aber – ich gestehe es offen und geradeheraus – fehlt seinen Werken die Liebe des Literaten, immerzu ist es die Hure Politik, die hinter den Zeilen seiner Bücher mit naiv-verführerischem Blick lockt und dafür sorgt, dass echte (literarische) Liebe nicht in die Herzen der Leser Eingang finden kann. Das tat sie denn auch mit mir, diese Hure Politik, als ich Freysingers „Rote Asche“ heimlich nachts gelesen habe. Und die Hure belästigte mich während des Lesens mit Einflüsterungen wie dieser: „Freysinger ist coordinateur romand de l’UDC… der macht doch mit diesem Buch einfach nur Polit-Propaganda…“ Und sie, die Polit-Hure, machte es mir sogar auf Französisch: „Il fait la promotion de son livre… il fait la promotion… viens mon chéri… la campagne électorale… il fait la promotion… mein Name ist… bien sûre … tu as raison … moi, moi, je suis Schneeflittchen“. Wer jedoch die Hure Politik ausblendet, der trifft auf einen sehr guten Literaten und Schriftsteller.

Oskar Freysinger, der Literat und Schriftsteller. Er ist Mitglied des serbischen Schriftstellerverbandes. Der Schweizer Autorenverband Autorinnen und Autoren der Schweiz (AdS) hat sein Antragsgesuch im Jahr 2005 abgelehnt. Er machte dafür seine „gesellschaftspolitischen und ethischen Grundvorstellungen“ geltend, die dem AdS nicht genehm waren. Das ist bedauerlich, denn Freysinger ist ein einfühlsamer Lyriker (Lyrikpreis am Rilke-Festival!) und ein überzeugender Prosa-Schriftsteller. Grossartig ist sein spannend recherchierter Roman Canines: antipolar aus dem Jahr 2010, dem der Justizfall Luca Mongelli zugrunde liegt. Persönlich schätze ich Oskar als Kollegen, später auch als Erziehungsminister, der mit seinen rhetorisch-literarischen Abschlussreden uns alle mal für mal an den schulischen Abschlussfeiern von den Sitzen riss (Bild oben). Seinen Roman „Schachspirale“ schickte er mir vor mehr als zehn Jahren als pdf.-Manuskript zur Lektüre, und er bat mich dabei um meine Meinung. Bereits nach einigen Seiten „Rote Asche“ erinnerte ich mich an diese „Schachspirale“ aus dem Jahr 2005, die mir nun leicht verändert, aber auch stark verbessert, zumindest teilweise in „Rote Asche“ wieder begegnet.

Ein epischer Thriller. Selber bezeichnet der Autor sein Buch „Rote Asche“ gerne als einen „epischen Thriller“. Die Intrige umspannt die Jahre 1919 – 1951. Bekannte Thriller umfassen viel kürzere Zeiträume, oft sogar nur wenige Wochen oder sogar nur Tage. Der Held in „Rote Asche“ heisst Gagarin. Als abgebrühter und durchtriebener Folterknecht der Tchéka hat er eine perfide Foltertechnik entwickelt, mit deren Hilfe er seine bemitleidenswerten Opfer zum Sprechen bringen kann. Als Folterwerkzeug benutzt er das Schachspiel. Er pervertiert und modifiziert die geltenden Regeln des Schachspiels derart, dass die Gequälten unter dieser besonderen Prozedur gestehen, was von ihnen verlangt wird. Gagarin erachtet die physische Gewalt als zu wenig effektiv. Er setzt auf die psychologische Manipulation als überragende Foltertechnik.

Vielleicht doch eher ein „Politthriller“? Freysingers selbst gewählter Terminus „epischer Thriller“ lässt sich aus dem Text heraus nicht belegen. Als „Roman“ bezeichnen wir ja bereits eine epische Grossform, und der Roman erzählt zumeist vom Schicksal eines einzelnen Protagonisten oder einer Gruppe, in „Rote Asche“ also von Gagarin und der Tchéka. Als epische Grossform weist der Roman eine ganz besondere Erzählperspektive auf. In „Rote Asche“ ist es vorwiegend ein auktorialer Erzähler, der uns aus seiner Sicht von den Schandtaten der alten Sowjetunion erzählt. Weil der auktoriale Erzähler in „Rote Asche“ auch Parallelen zur Gegenwart zulässt, gehört die Erzählung wohl zum Genre des Politthrillers. Dazu gehört auch die Einarbeitung von fiktiven politischen Ereignissen. Typisch im Politthriller „Rote Asche“ ist der Bezug auf reale politische Ereignisse der Vergangenheit.

Die Farbe Rot am Ziel aller Träume. Für Marx sollte die Farbe Rot als erstrebenswertes Ziel aller historischen Bestrebungen der Menschen stehen. Die Farbe Rot steht für die Synthese all dieser Bemühungen, Rot steht für die kommunistische und sozialistische Philosophie, die Marx zusammen mit Engels entwickelt hatte. Marx liess sich jedoch bereits von Hegel inspirieren, dessen Philosophie der Protagonist Gagarin in „Rote Asche“ verinnerlicht hat. Das pervertierte Schachspiel, mit dem er seine Opfer einer psychologischen Folter unterzieht, symbolisiert das dekadente Bürgertum. Die Hegelsche Vision eines Schwarz-Weiss-Dualismus, die das Gute und das Schlechte in der Welt repräsentiert, führte Marx einer Synthese zu. Das Schwarze (Schlechte) und das Weisse (Gute) in der Welt sollte in der Farbe Rot (Kommunismus) kumulieren. In „Rote Asche“ schafft der Anti-Held Gagarin diese Metamorphose nicht, er schafft es nicht, die Menschheit aus dem schwarz-weissen Denken hin zu der synthetisierenden roten Farbe hin zu bewegen. Gagarin gibt in „Rote Asche“ die Figur eines gescheiterten Weltverbesserers ab.

Gagarin, der „einfältige“ Überflieger. Der Name Gagarin in „Rote Asche“ steht symbolisch für die Weltbesserer, die zwar vorgeben, unsere Welt retten zu wollen, die dies jedoch nur mit Hilfe des Totalitarismus schaffen. Gagarin hiess zwar auch der erste Mensch im Weltall, im Namen „Gagarin“ steckt aber auch der Terminus „gaga“, den wir gebrauchen, um eine Dummheit zu bezeichnen. Die Parallelen zu heutigen selbsternannten „Ökologisten“ drängen sich auf. Wie Gagarin in „Rote Asche“ geben selbsternannte Umweltaktivisten vor, unsere Welt zu retten. Doch die Rettung unseres Planeten ist nur zu haben zum Preis einer Minderung oder gar Aufgabe unserer Souveränität. Wir sollen uns einschränken und beschränken, um unseren Planeten zu retten, und um dieses Ziel zu erreichen, werden unsere demokratischen Rechte beschnitten und unsere Demokratien eingeebnet. Dies bedeutet aber auch das Ende von Werten wie Freiheit und Menschlichkeit, liesse sich aus der Sicht des Autors von „Rote Asche“ interpretieren.

Zurück zu den Wurzeln. Freysingers Politthriller „Rote Asche“ kann als ein Lehrstück genommen werden, das uns vor der „roten Gefahr“ warnen soll, die (immer) aus dem Osten kommt. „Rote Asche“ erinnert mich an meine Studentenzeit. Als am 21. August 1968 die Truppen des Warschauer Paktes in Prag einmarschierten um den Versuch, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu schaffen, gewaltsam niederzuschlagen, da zogen wir, die Maturanden des Kollegiums, mit Transparenten durch Brig und sammelten uns im Hof des Stockalperschlosses. Dort skandierten wir laut und unmissverständlich „Russen raus!“ Das Liberalisierungs- und Demokratisierungsprogramm, mit dem sich die tschechoslowakische Kommunistische Partei unter Alexander Dubcek positionieren wollte, blieb aber eines dieser politischen Konstrukte, welche die Menschen in Osteuropa bis heute nicht wesentlich weiter gebracht haben. Politischen Konstrukten ist wohl grundsätzlich zu misstrauen. Dies trifft für den Politthriller „Rote Asche“ gleichermassen zu wie auf die realen politischen Verhältnisse, und zwar nicht nur in Osteuropa.

Text und Foto: Kurt Schnidrig