Die Suche nach verlorenen Welten

In seinem Buch „Hinter den Rändern der Welt“ machen sich Nicolas Eyer (Text) und Annelies Benelli (Illustrationen) auf die Suche nach verlorenen Welten.
(Fotos: Kurt Schnidrig)

Wie Lichtblitze durchzucken die Erinnerungen an die eigene Kindheit und an die grosse Liebe seines Lebens den Ich-Erzähler in Nicolas Eyers Buch „Hinter den Rändern der Welt“. Verlorenen Welten trauert er nach, seiner „Kindheitsinsel“ wie auch der verpassten Zweisamkeit. Was bleibt, das ist Verlustschmerz und Einsamkeit.

Gefangen auf der Insel der Kindheit. Da steht er auf der Plattform seines Leuchtturms, Ian, der Ich-Erzähler, umstürmt und umtobt in dunkler Atlantiknacht. Als Assistent für Tropenforschung hätte er sich mit der Wanderbewegung der Seevögel auseinanderzusetzen. Doch seine Insel ist mehr als eine Insel irgendwo auf den Hibriden, es ist die „Kindheitsinsel“, auf der er glücklich war, früher, als die „Vögel“ ihm noch alles lieferten, das Fleisch, die Eier, sogar die Daunen fürs Nachtlager und den Mist für das Feuer im Ofen. Sein Vater zeichnete sie, die Seevögel, er lenkte und steuerte den Leuchtturm bis ihn die Fremdsteuerung vertrieb, als Leuchtturmwärter genauso wie als Vater und Ernährer. Und trotzdem harrt jetzt der Sohn aus, auf der Insel der Kindheit, von der er sich nicht lösen kann, in die er aber nicht mehr hineingehört.

Verlorene Welten. Der Ich-Erzähler in Nicolas Eyers Buch lebt in der früheren Welt seiner Kindheit, auf einer tröstlichen Kindheitsinsel, und er lebt und leidet auch in der verpassten Welt des Erwachsenen, in der grenzenlos einsamen Welt einer verlorenen Liebe, verkörpert durch Claire. Der Ich-Erzähler fristet ein Dasein inmitten zweier verlorener Welten, er lebt buchstäblich „Hinter den Rändern Welt“, aber immerhin steht sein Leuchtturm auf „seiner“ Insel noch, es ist eine Insel immerhin noch „am Rande der Welt“. Auf seiner Insel verarbeitet Ian den Verlustschmerz, er ist hin- und hergerissen zwischen Einsamkeit und Freiheit, beides sind sie „hässliche Zwillingsschwestern“, aber immerhin, es sind Schwestern. So lebt Ian, der Ich-Erzähler, einigermassen geborgen im Früher, er lebt auf seiner tröstlichen Insel, immer aber auch mit sehnsuchtsvollem Blick auf das, was hätte sein können, auf die grosse Liebe, auf Claire, die letztendlich in Gestalt einer neuen kleinen Insel, als „Claire’s Needle“, in seinem Blickfeld bleibt. Es ist dies Ians „ganze Welt“, Claire ist die Erde und Ian der Mond. Es ist dies seine Traumwelt zwar, eine irreale Welt, aber immerhin ist es eine Welt, die ein Weiterleben ermöglicht.

Das Leben ist ein Kampf, llustriert von der Künstlerin Annelies Benelli.

Die Expedition zum Ur-Papagei. Liest man Nicolas Eyers Buch lediglich als Roman-Story, dann greift man wohl zu kurz, dann bleibt man wohl an der Oberfläche. Es geht dann bloss um eine wissenschaftlich nicht sehr glaubwürdig geschilderte Expedition in den Urwald Amazoniens. Schon früh warnt uns der Ich-Erzähler mit seiner Vorahnung: „Etwas wird schief gehen“ (Seite 22). Es beginnt mit den vielen unzuverlässigen Quellen, die der Expedition als Motivation dienen: Der Ur-Papagei wird von den Doktoranden an der Uni Bern als „Scherz“ abgetan, als „leeres Geschwätz“, er soll von einem „Abenteurer“ gesichtet worden sein, niemand weiss so ganz genau wie so ein „lebendiges Fossil“ aussieht, einzig einen Schrei soll da jemand irgendwo aufgezeichnet haben. Ein Professor ist es, Professor Johannes Oesch, auch er ein „seltsamer Vogel“, der mit seiner Doktorandin Claire aufbricht nach Brasilien, nach Amazonien, und der ihn zwar auch findet, den Ur-Papagei, bläulich und in einem verklärenden Dunst, aber kaum zu erkennen. Wie schreit ein Urpapagei? Niemand hat ihn bisher wissenschaftlich erfasst, aber der seltsame Vogel-Professor und seine Doktorandin sind sich sofort schlüssig: „Sie hatten ihn gefunden“, den Ur-Papagei, liest man unvermittelt, und als Leser nimmt man es ungläubig zur Kenntnis und weiss: So geht das nicht, sowas gehört in eine Märchenstunde, das ist meilenweit entfernt von jeder wissenschaftlich vetretbaren Wahrheit. Aber eben, liest man Nicolas Eyers Erzählung lediglich als Roman-Story, dann greift man wohl zu kurz.

Der belesene Autor in seiner Bibliothek: Hat er sich bei der griechisch-römischen Mythologie bedient? (Foto: Kurt Schnidrig)

Der Ur-Papagei als Symbol. Nimmt man Eyers Buch nicht bloss als eine wissenschaftlich nicht ganz dichte „Roman“-Story, dann steht zwar nicht drin, was drauf steht, aber gelesen als „psychologische Novelle“ erschliesst sich dem Leser eine überaus faszinierende zweite Lesart. Dann müssten auch Fragen erlaubt sein wie diese: Wofür nun steht der Ur-Papagei symbolisch? Der Urpapagei ist am Anfang der Erzählung wichtiger als am Schluss, als man ihn findet. Er wird je länger, je weniger wichtig. So gesehen, könnte der Ur-Vogel ein Symbol sein für alles, was man sucht auf der Welt. Der Ur-Papagei ist dann die Endstation unserer Sehnsucht, die Erfüllung unserer Träume. Die Illustratorin Annelies Benelli hat diese Lesart des Geschehens intuitiv wundervoll interpretiert. Sie hat nicht nur einen einzigen Ur-Papagei gemalt, sondern gleich zwei sich bekämpfende Vögel. Das Leben ist ein Kampf. Der Ur-Papagei, die Expedition zu diesem „lebendige Fossil“, gerät so gleichsam zu einer Suche nach den eigenen Wurzeln. Was ist uns wichtig? Die einsame Wissenschaft oder das liebevolle Zusammensein? Einer der Vögel wirkt auf dem Bild der Künstlerin aufgeschreckt, so als wollte er uns mitteilen: Was kommt noch alles auf uns zu? So betrachtet, wirkt Nicolas Eyers Erzählung verspielt, komplex und tiefgründig.

Die Entführung in die Unterwelt. Liest man Eyers „Hinter den Rändern der Welt“ aus symbolischer Perspektive, dann eröffnet sich uns eine archaisch-mythische Sagenwelt. Hinweise auf die griechisch-römische Mythologie finden sich in seiner Erzählung zuhauf. Auf dem Kahn „Caronte“ entführt der seltsame Professor seine Doktorandin. „Caronte“ lässt sich zu „Charon“ übersetzen. Charon, das war der Fährmann aus der griechisch-römischen Mythologie. Und wie Charon treibt der Professor sein entseeltes Opfer (Claire) über die „schwarzen Wasser“ in die „Hölle“ (in das Totenreich Hades). In der Erzählung ist es gemäss dieser Lesart folgerichtig ein „irrealer Regenwald“, es ist die Unterwelt aus der Mythologie. „Es gab nun kein Zurück mehr“, lesen wir mit Erschaudern, als Charon (in Gestalt von Professor Oesch) sein entseeltes Opfer über die „schwarzen Wasser“ in die „grüne Hölle“ entführt. Er führt sein entseeltes Opfer über die Flüsse Rio Negro und Rio Solimoes. Stehen sie für die beiden Totenflüsse Lethe und Styx, über die Charon die Verdammten auf seiner Fähre hinab in die Unterwelt entführte? Wie in Dantes Göttlicher Komödie entführt Professor Oesch als Charon, als düsterer Fährmann, Claire, als Verdammte der Wissenschaft, ins Reich des Hades, des Herrschers der Unterwelt. Die „entseelte“ und unbestattete Tote ist Claire. Sie hatte „eine andere werden“ wollen, sie hatte „die Welt verbessern“ wollen, sie hatte „den Frieden finden“ wollen. Doch dies alles verpasste sie, weil sie zu „verbissen, fanatisch“ ihre Lebensziele anstrebte. Dabei verlor sie das, was sie ausmachte, sie verlor – gemäss der Katharsis-Lehre – ihre Seele. Und nun stirbt sie unbekleidet, als Nackte, sie stirbt, als sie ihr Lebensziel (symbolisiert durch den Ur-Papagei) im letzten Augenblick entfliehen lassen muss.

„Auch der Amazonas ist ohne Brücke“, sagt Illustratorin Annelies Benelli. Charon wartet mit seiner Fähre auf die Entseelten, liesse sich dazu interpretieren.

Wenn die Lebensziele entschwinden. Vielleicht ist der Ur-Papagei bloss ein Symbol für alles, was wir auf dieser Welt suchen. Nicht jeder taugt als Weltverbesserer. Wer allzu verbissen und allzu fanatisch nach dem Erfolg giert und sich unheilvollen Heilsbringern anvertraut, der wird Schiffbruch erleiden, der wird mit den Idealen auch das verlieren, was ihn als Mensch ausmacht, er wird seine Seele verlieren. Derart entseelte Menschen finden sich in der Fähre des Charon wieder, der sie als Verdammte dieser Erde hinüberschifft ins Reich des Hades. Ein Funke Hoffnung und Trost bleibt lediglich dem, der sich auf seine Kindheitsinsel rettet, in einen Mikrokosmos, in eine „ganze Welt“, in eine geträumte Zweisamkeit, in der sie die Erde ist und er der Mond.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig