Die Reise nach Phantasien

Das Schmökern auf dem Büchermarkt ist eine Reise nach Phantasien.
(Fotos: Kurt Schnidrig)

Fremde Welten, prickelnde Abenteuer oder Träume von einer besseren Welt gefällig? Das Schmökern auf einem Büchermarkt gleicht einer Reise nach Phantasien. Es ist deshalb schade, dass sich anscheinend der Aufwand nicht mehr lohnt, einen Büchermarkt zu organisieren. Das sagte kürzlich Jean-Pierre D’Alpaos seitens der Organisatoren des Buchfestes gegenüber den Medien und fasste zusammen: „Ich denke, ein Büchermarkt ist nicht mehr zeitgemäss.“ Vielleicht stimmt das für Brig. Eine andere Meinung haben die Organisatoren im „Bücherdorf“ Saint-Pierre-de-Clages. Und in südlichen Ländern schwärmen die Menschen von „freien Bibliotheken“, was ein Aufenthalt auf meiner Ferieninsel Ibiza immer wieder bestätigt.

Ein Bücherdorf mit einem Büchermarkt. Das Dorf Saint-Pierre-de-Clages nennt sich altdeutsch Zgletsch. Es ist ein Ortsteil der Munizipalgemeinde Chamoson im Bezirk Conthey. Saint-Pierre-de-Clages ist das einzige Schweizer Bücherdorf. Das Dorf hat sich stolz den Titel Village Suisse du Livre zugelegt. Das Schweizer Bücherdorf existiert seit 1993. In den sehr alten Bürgerhäusern sind zahlreiche Antiquariate untergebracht, die zum Schmökern und Stöbern animieren, das Dorf ist ein einziger grosser Büchermarkt. Saint-Pierre-de-Clages ist eines der bisher rund 30 europäischen Bücherdörfer. Es handelt sich um eine europäische Initiative, weltweit Bücherdörfer mit Büchermärkten aus der Taufe zu heben. Daran sind gegenwärtig 13 europäische Länder beteiligt. Sie alle setzen sich ein für die umfassende kulturelle Bedeutung des Buches. Die Bücherdörfer mit ihren Büchermärkten setzen diesbezüglich ein spezifisches Signal. Demnächst ist es in Saint-Pierre-de-Clages wieder so weit: Ende August jeden Jahres findet hier ein dreitägiges Bücherfest statt. Und in Brig? Da fand zum 5. Mal ein Buchfest mit Büchermarkt statt. Dass ein Büchermarkt nicht mehr „zeitgemäss“ sei, wie dies die Organisatoren vermuten, stimmt so bestimmt nicht. Mindestens dreissig Bücherdörfer mit Büchermärkten in ganz Europa beweisen das Gegenteil. Wer zudem einen Blick über den Tellerrand hinweg wagt, der findet in südlichen Ländern viele sehr einfache und praktisch kostenlose Büchermärkte.

Eine „BIBLIOTECA LIBRE“ auf meiner Ferieninsel Ibiza.

Von den Hippies erfunden. Wer glaubt, dass die Blumenkinder der späten 60er-Jahre nur auf freie Liebe und auf Drogen aus waren, der irrt sich. Auf den Hippie-Trails in den Osten haben sie die östliche Weisheit vorwiegend aus Büchern in sich aufgesogen. Damals tourte man mit den legendären Hippie-Bussen zum Anapurna-Massiv. Wir hörten damals in Kathmandu vom mythischen Ort Shangri-La. Von diesem imaginären Himalaya-Paradies waren wir unendlich fasziniert und magisch angezogen. Was wir damals an Orten wie diesen suchten, das war eine östlich geprägte Spiritualität. Wir fanden sie hier in klösterlicher Abgeschiedenheit, vermittelt von Mönchen und Gurus, die sich als die letzten Erben und Verteidiger von althergebrachtem Wissen und von überzeitlicher Kultur verstanden. Sie machten uns zu Trekkern und Hippies mit hochfliegenden Plänen und mit Visionen für eine bessere Welt. (Vgl. dazu die Ausführungen in meinem Roman „Vergiss nicht die Blumen in deinem Haar“ S. 64ff.) Als die paradiesischen Orte am Hindukusch von Kriegen heimgesucht wurden, zogen sich die „erleuchteten“ Hippies mit Rucksäcken voller Bücher zurück in Orte wie Ibiza oder auch ins kalifornische Silicon Valley, wo sie das digitale 21. Jahrhundert erfanden. Überall hinterliessen sie BIBLIOTECHE LIBRE, frei zugängliche und kostenlose Büchermärkte.

Ein freier Hippie-Büchermarkt auf IBIZA, eine BILIOTECA LIBRE.
(Fotos: Kurt Schnidrig)

Bücher sind Allgemeingut. Die Grundidee der BIBLIOTECA LIBRE und später auch der europäischen Bücherdörfer mit ihren Büchermärkten ist eine zutiefst soziale Idee. Bücher und das Wissen zwischen Buchdeckeln soll nicht den Kapitalisten und Intellektuellen vorbehalten bleiben. Die Verschulungstendenzen, besonders im Bereich der Literatur, waren und sind deshalb den Hippies und deren freiheitlich denkenden Nachfolgern bis heute ein Gräuel. Die Akademisierung der Literatur ist in einigen Bereichen der Weltliteratur zwar nicht zu verhindern, will man den höchst komplexen Themen und Problemen gerecht werden. Vor allem die Belletristik, die schöngeistige Literatur also, die Romane, Erzählungen und Geschichten, sollten jedoch für alle Leserinnen und Leser dieser Welt zugänglich sein. Und dies idealerweise kostenlos, zur freien Lektüre angeboten, so wie in der BIBLIOTECA LIBRE oder für ein kleines Entgelt auf den Büchermärkten und in den Antiquariaten dieser Welt.

Eine Reise nach Phantasien. Kennen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, diese Geschichte? Sie handelt von einem Aussenseiter. Er wird von seinen Klassenkameraden schikaniert. Auf der Flucht vor ihnen rettet er sich in das Antiquariat des Buchhändlers Koreander. Dieser liest gerade in einem geheimnisvollen Buch. Der Aussenseiter schnappt sich das geheimnisvolle Buch und flüchtet mit ihm auf den Dachboden seiner Schule. Dort beginnt er zu lesen. Die Geschichte wird für ihn je länger je mehr zur Wirklichkeit. Schliesslich wird er selbst ein Teil davon. Er tritt die Reise nach Phantasien an. Das Land Phantasien droht durch das Nichts zerstört zu werden. Er will Phantasien retten und wird zum Held. Dabei hatte er bloss einen Roman lesen wollen, den er in einem Antiquariat beim Schmökern gefunden hatte. Natürlich, Sie haben bestimmt herausgefunden, um welche Geschichte es sich hier handelt: Um die „Unendliche Geschichte“ von Michael Ende mit dem Protagonisten Bastian Balthasar Bux. Das Buch ist 1979 erschienen, ein märchenhafter, phantastischer und romantischer Bildungsroman, der auf einem Büchermarkt seinen Anfang nimmt.

Gefunden! Ein Buchliebhaber taucht beim Stöbern auf einem Büchermarkt ab in eine Parallelwelt. Mir persönlich ist es kürzlich auf dem Buchfest in Brig ganz ähnlich ergangen. Beim Stöbern und Schmökern bin ich endlich auf einen der merkwürdigsten Romane der Weltliteratur gestossen, der mir bis anhin gerade noch gefehlt hatte. Also die Geschichte darin beginnt so: „Sie war das Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden, meine Sünde, meine Seele… wuchs als glückliches Kind in einer hellen Welt von illustrierten Büchern, sauberem Sand, Orangenbäumen, Aussicht aufs Meer und lächelnden Gesichtern auf…“ Ich habe das Buch für einen Fünfliber erstanden, eine Reise nach Phantasien inklusive.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig