Wo Berge sich erheben

Wo Berge sich erheben zum hohen Himmelszelt, da ist ein freies Leben. Trifft der Text des Volkslieds heute noch zu?
(Fotos: Kurt Schnidrig)

Das Matterhorn als Sperrgebiet? Mit dieser Schlagzeile schreckte kürzlich die Sonntagszeitung ihre Leserschaft auf. Bergführer verlangten daraufhin die Sperrung des Matterhorns und wohl auch anderer Berge. Was war passiert? Ein angebrochener Fels hatte ein Fixseil mitgerissen, worauf eine Zweierseilschaft tödlich abgestürzt war. ETH-Forscher schieben die Ursachen dem Klimawandel zu, der Permafrost taue im Kern der Berge auf. Darf man das Hochgebirge deswegen abriegeln? Nein, sagte der Sektionschef für Naturgefahren des Kantons Wallis, Raphaël Mayoraz, denn Alpinismus sei eine private Angelegenheit. Das ist jedoch nicht die ganze Wahrheit. Berge sind ein Synonym für Freiheit, in den Bergen ist Freiheit! Der Mailänder Bestseller-Autor Paolo Cognetti propagiert in seinem neusten Buch die Freiheit und ein einfaches Leben in den Bergen.

Die Freiheit am Berg. Die Biographien grosser Bergsteiger sind sich einig: In den Bergen ist Freiheit. Ein Leben in den Bergen verspricht uneingeschränkte Entfaltung. Wer in die Berge zieht, der dringt vor in eine Sphäre der absoluten Freiheit. Jeder Schritt in Richtung Gipfel führt einen Schritt weiter weg aus dem Tal, jeder Schritt führt auch weiter weg von den Verpflichtungen und den Mühlen des strukturierten Alltagslebens. Kommt dazu, dass uns kein anderer Ort derart herausfordert, von unserer Freiheit Gebrauch zu machen. Am Berg gibt es immer wieder neue Entscheidungen, die getroffen werden müssen: Welche Aufstiegsroute soll es sein? Welches Wetterfenster nutzen? Welche Umkehrzeit einplanen? Welche Ausrüstung? Ohne ein selbstbestimmtes und freiheitliches Agieren geht am Berg nichts.

Leben in den Bergen. Jeweils in der Ferienzeit stellen sich viele von uns die Frage: Ans Meer oder in die Berge? Wer sich entscheidet, lieber die Ferien in der Bergwelt zu verbringen, der bekommt jetzt Unterstützung durch den Mailänder Bestseller-Autor Paolo Cognetti. „Mein Jahr in den Bergen“, so heisst sein neustes Buch. Auch er rühmt darin die wiedergefundene Freiheit, die jedoch durch „das Abenteuer des einfachen Lebens“ erkauft werden muss. Als ein „Abenteuer“ erlebt auch er das Leben in den Bergen, denn selbst dort sei nicht immer alles so, wie es sein sollte, schreibt er. Die begehrte Sommerfrische könne da oben auch mal eiskalt sein, die Stille könne eine Totenstille sein und die Einsamkeit könne für uns bedrohlich werden. Entscheidend sei aber, dass dem Bergler „das kleine Glück“ winke, schreibt Cognetti.

In den Bergen erlebt das „kleine Glück“, wer der Natur, den Tieren und Pflanzen begegnet.

Das kleine Glück der grossen Berge. Es brauche allerdings eine komplett andere Einstellung, um das „kleine Glück der grossen Berge“ erleben zu können, schreibt Paolo Cognetti. Wer in die Berge zieht, der muss die Hektik der Stadt hinter sich lassen. Der Autor Paolo Cognetti hat sich selber eine Auszeit gegönnt vom stressigen Leben in Mailand und hat eine Hütte in den Bergen bezogen. Dort oben hat er die einfachen Dinge des Lebens wieder entdeckt: Holz hacken, Feuer machen, ein Gärtchen anlegen. Er hat angefangen, sich mit den Tieren zu unterhalten. Seine Sinne haben sich dabei geschärft, so dass er auch wieder die seltsamen Geräusche der Nacht wahrnehmen und einordnen konnte. Der Autor propagiert in seinem Buch das freie Alpenleben als Mittel zur Entschleunigung, um danach wieder mit frischen Kräften ins Tal und in die Stadt hinabzusteigen, dies ganz gemäss dem Volkslied:

Wo Berge sich erheben zum hohen Himmelszelt, da ist ein freies Leben, da ist die Alpenwelt. Es grauet da kein Morgen, es dämmert keine Nacht; dem Auge unverborgen das Licht des Himmels lacht. (…) Dem Älpler nehmt die Berge, wohin mag er noch ziehn? Paläste sind ihm Särge, drin muss er schnell verblühn. (Text: Leonhard Widmer).

Text und Fotos: Kurt Schnidrig