Caféhausliteraten

Das berühmteste Kaffeehaus in Wien ist das Hotel Sacher.
(Fotos: Kurt Schnidrig)

Kaffeehausliteratur wird in Wiener Cafés geschrieben. Entstanden ist sie vor dem Ersten Weltkrieg, ursprünglich vertrieben sich Intellektuelle und Schriftsteller die Zeit damit. Kaffeehausliteratur bestand aus flüchtigen Notizen, Eindrücken und Gesprächen, aus einem unverbindlichen Palaver eben. Caféhausliteraten gibt es mittlerweile jedoch überall auf der Welt. Die Klimastreik-Bewegung liefert typische Beispiele für moderne Kaffeehausliteratur. Doch nicht bloss die Streikschüler am europäischen Klimagipfel in Lausanne verhalten sich wie Caféhausliteraten. Auch renommierte Schriftsteller mutieren zu Caféhausliteraten, wenn es um die Rettung unseres Planeten geht.

Streikschüler als Caféhausliteraten. Die „neue Wut auf den Kapitalismus“ trägt blonde Zöpfe: Greta Thunberg ist die Identifikationsfigur der moralischen Teenie-Generation. Unter ihr und mit ihr verwandelte sich das Treffen der Klimastreik-Bewegten in Lausanne zum Kaffeehaus-Palaver. Streitereien und Tränen sorgten für einen schon fast bemitleidenswert niveaulosen Klimagipfel. Der Entschluss der Streikschüler, direkt Einfluss auf die Wahlen im Herbst zu nehmen, rief die erwachsenen Politiker auf den Plan. Sie mussten die aufmüpfigen Teenies zur Vernunft bringen, denn ihr „Klima-Label“ ist ein Vorzeigebeispiel für klassische Kaffeehausliteratur. Zum Glück sind sich die Streikschüler untereinander selber uneins, wie ernst sie ihre „Kaffeehausliteratur“ nehmen wollen. Gemeint sind ihre Forderungen nach einem „Systemwandel“. Die Ideen reichen von der „Verstaatlichung von Konzernen“ über die „Abschaffung des Flugverkehrs“ bis hin zum „Sozialismus“ und gar „Kommunismus“. Zu einem derartigen „Klima-Label“ wollen sich nicht mal die Grünen bekennen. Grünen-Parteipräsidentin Regula Rytz nimmt Abstand: „Für uns ist klar, dass es einen Wandel braucht, aber auf demokratische Art und Weise“, sagt sie. Und FDP-Ständerat Ruedi Noser redet Klartext und spricht im „Blick“ gar von Irrsinn und Verrat am Klima: „Kommunismus hilft dem Klima nicht“, sagt er, und verweist auf kommunistische Länder wie China und Russland, die sich betreffend Klimapolitik am Ende der Rangliste aller Nationen einreihen müssen. Zum Glück: Mittlerweile sind sich die Klimaschüler nicht mehr so sicher und sagen, das sei alles noch unklar. Interessante Diskussionen seien es trotzdem gewesen. Aber eben, auch ein äusserst zutreffendes Beispiel für „Kaffeehausliteratur“.

Das Hundertwasserhaus in Wien ist ein Beispiel dafür, dass Kaffeehausliteratur manchmal auch produktiv sein kann.

Produktive Kaffeehausliteratur? Es wäre nun aber falsch, Kaffeehausliteratur einfach abzuwerten zu einem nichtsnutzigen Palaver. Anlässlich einer Reise nach Wien durfte ich dies eindrücklich erleben. Da stand ich vor dem weltberühmten Hundertwasserhaus, das ja ebenfalls aus einer Umweltdebatte heraus entstanden war. So wie die heutigen Klimastreik-Schüler demonstrierte in den 1950er-Jahren bereits der österreichische Künstler Friedensreich Hundertwasser mit Manifesten und Essays gegen die Verstädterung und gegen das Verschwinden und Zerstören der Natur in Städten wie Wien. In typischen Kaffeehausgesprächen entwarf er phantastische Ideen. Dazu gehörte etwa das Aufforsten der Dächer Wiens, die sogenannte „Dachbewaldung“. Das Bijou seiner architektonischen Träume war jedoch das „Hoch-Wiesen-Haus“, gefolgt vom „Augenschlitzhaus“ und dem „Terrassenhaus“. In ausufernden Kaffeehausgesprächen diskutierte er seine Vorstellungen von einer natur- und menschengerechten Architektur zusammen mit anderen Wiener Caféhausliteraten. Und dann geschah das Wunder. In einem Brief vom 30. November 1977 an den Wiener Bürgermeister Leopold Gratz empfahl Bundeskanzler Kreisky, Hundertwasser die Möglichkeit zu geben, seine umweltfreundlichen Anliegen beim Bau eines Wohnhauses umzusetzen.

Nach jahrelangen „Kaffeehausgesprächen“ durfte Hundertwasser in Wien „ein Haus für Menschen und Bäume“ nach seinen Vorstellungen gestalten. (Foto: Kurt Schnidrig)

Ein Haus für Menschen und Bäume. Der Umwelt-Träumer Friedensreich Hundertwasser durfte mit der Erlaubnis der Stadt Wien „ein Haus für Menschen und Bäume“ bauen, so wie er es Jahre zuvor bereits in seinem Text „Verwaldung der Stadt“ beschrieben hatte. Das bunte und ungewöhnliche Haus hat unebene Böden und ist üppig begrünt. Hundertwasser pflanzte 250 Bäume und Sträucher – einen echten Park auf den Dächern des Hauses. In Wien zählt heute das Hundertwasser-Haus zu den viel fotografierten touristischen Sehenswürdigkeiten. Das Haus vermittelt eine wichtige Botschaft: Auch hochfliegende und phantastische Pläne lassen sich realisieren! Auch Kaffeehausliteratur kann unsere Welt verändern und den Kampf für Natur und Umwelt befeuern. Das Hundertwasserhaus ist somit auch ein Monument für die heutigen Klimastreik-Schüler. Es steht für die unbegrenzten Möglichkeiten, die auch heutigen Caféhausliteraten offenstehen.

Caféhausliteraten als Weltverbesserer. Das Wiener Kaffeehaus als kulturelle Institution diente den Autoren als Inspiration für Sozialstudien, Gelegenheitsliteratur und Feuilletons. Viele Intellektuelle verbrachten Tage im Kaffeehaus, um sich untereinander auszutauschen. Zum Stammpublikum gehörten auch jüdische Schriftsteller wie Alfred Polgar, Egon Friedell und H.C. Artmann. Friedell sah im März 1938, nach Hitlers Einmarsch in Wien, keinen anderen Ausweg mehr, als sich aus dem Fenster des Caféhauses zu werfen. Zuvor hatte er einen Passanten vor seinem herabstürzenden Körper gewarnt.

Mit einem „Schlachtplan“ in den Klimakrieg. Ein internationales Expertenteam (!) präsentiert in einem Buch, das soeben erschienen ist, einen Notfallplan für die Klimakrise. Mit dabei auch Kevin Anderson, der persönliche Berater der schwedischen Aktivistin Greta Thunberg. Und der Berater von Greta Thunberg ist es, der folgende martialisch-kriegerischen Zeilen von sich gibt: „Wir können die Klimakatastrophe nur durch Kraftanstrengungen verhindern, die mit der Mobilisierung im Zweiten Weltkrieg vergleichbar sind.“ Ein ausgeklügelter „Schlachtplan“ soll die Welt retten. Der Greta-Berater möchte die reichsten 10 Prozent der Weltbevölkerung mit elf Prozent besteuern, um mit diesem Geld seinen „Schlachtplan“ umsetzen zu können. Das Geld der Reichen dieser Welt soll neue Supertechnologien ermöglichen, die eine Energiewende beschleunigen. (Paul Hawken u.a.: Drawdown. Der Plan. Wie wir die Erderwärmung umkehren können. Gütersloher Verlagshaus 2019.) Das Buch ist beste „Kaffeehausliteratur“.

Greta im Kaffeehaus. Mit sozialistischen und kommunistischen Ideen gegen die Klimakatastrophe? Verstaatlichung von Konzernen? Abschaffung des Flugverkehrs? Moderne Caféhausliteraten wie Greta-Berater Kevin Anderson erweisen mit solch kriegerischen Parolen dem überhitzten Klima einen schlechten Dienst. Es wäre wohl besser, wenn sich die Caféhausliteraten auf ein konkretes Projekt konzentrieren würden, so wie dies vor fünfzig Jahren Friedensreich Hundertwasser getan hat mit seinem „Haus für Menschen und Bäume“. Aber leider ist auch das Hundertwasserhaus in Wien mittlerweile zu einer touristischen Attraktion verkommen, die kaum Nachahmer gefunden hat.

Caféhausliteraten sind spannende und liebenswerte Persönlichkeiten, aber für Handfestes kaum zu gebrauchen. Trotzdem brauchen wir ihre Ideen, Visionen und Träume von einer besseren Welt. Denn es gilt das Dichterwort: „Wirklich reich ist der, der mehr Träume in seiner Seele hat, als die Wirklichkeit zerstören kann.“ (Hans Kruppa, 1952 geboren, Märchendichter).

Text und Fotos: Kurt Schnidrig