Liebe ist nur ein Wort

In London spielt sich eine amour fou ab. Der aktuelle Weltbestseller „Die einzige Geschichte“ von Julian Barnes berichtet davon.
(Foto: Kurt Schnidrig).

Junger Mann verliebt sich in ältere Frau. Eine verrückte Liebe, eine amour fou mit einem unglücklichen Ende ist bei dieser Konstellation geradezu vorprogrammiert. Besonders wenn es sich dabei noch um die erste Liebe des Lebens handelt. Der aktuelle Weltbestseller „Die einzige Geschichte“ des englischen Autors Julian Barnes stürmt in diesen Wochen die Bestenlisten weltweit. Das Konzept: Junger Mann verliebt sich erstmals in seinem Leben, dazu noch in eine viel ältere Frau, ist jedoch keineswegs „einzig“. In der deutschsprachigen Literatur haben Johannes Mario Simmel in „Liebe ist nur ein Wort“ und Bernhard Schlink in „Der Vorleser“ bereits aufgezeigt, dass mit dieser Art von amour fou, literarisch geschickt aufbereitet, durchaus eine breite Leserschaft zu mobilisieren ist.

Bestimmt die erste Liebe unser ganzes späteres Leben? Sind wir überhaupt den Anforderungen einer verrückten Liebe gewachsen? Eine Antwort gibt der Autor Julian Barnes in seinem Roman „Die einzige Geschichte“. Die erste Liebe beginnt oftmals wie im Märchen. Bei Barnes geschieht es auf dem Tennisplatz, in einem gemischten Doppel: Der 19-jährige Paul verliebt sich in die um dreissig Jahre ältere Susanne, die überdies auch noch verheiratet ist. Eine unmögliche Liebe, ist man da versucht auszurufen. Kann eine amour fou zwischen einem Neunzehnjährigen und einer fünfzigjährigen verheirateten Frau ein gutes Ende nehmen? Paul ist überzeugt, dass er die Liebe seines Lebens gefunden hat. Und er steht dazu. Er provoziert sogar sein Umfeld, indem er im Haus seiner Geliebten wohnt, obschon dort immer noch deren Ehemann logiert. Als Leser ist man gewarnt: Kann das gut gehen?

Verliebt vor dem Big Ben: Eine erste Liebe ohne Happy End?
Symbolbild: Kurt Schnidrig

Liebe kennt keinen Altersunterschied. Wer liebt, der fragt nicht nach dem Alter. Zumindest im wirklichen Leben nicht. Eine amour fou in der Literatur allerdings hat selten ein Happy End. So auch nicht im aktuellen Weltbestseller von Julian Barnes. Die Protagonisten in dieser Geschichte, der 19-jährige Paul und die 50-jährige Susanne, sind den Anforderungen ihrer ersten grossen Liebe letztlich nicht gewachsen. Im zweiten Teil der Story erzählt Paul fünfzig Jahre später, als nun älterer Mann, was aus dieser ersten und einzigen Liebe geworden ist. Dabei muss er achtgeben, dass er die Liebesbeziehung mit Susanne nicht schönredet. Denn es war vor allem Susanne gewesen, die dieser verrückten Liebe nicht gewachsen war. Je länger je mehr sei sie „im Nebel des Alkohols entschwunden“, schreibt der Erzähler in Julian Barnes Roman. Jetzt, im Alter, stellt sich Paul rückblickend quälende Fragen: Warum habe ich nicht versucht, diese grosse Liebe zu retten? War ich mit 20 Jahren einfach noch zu jung für eine derart verrückte Liebesbeziehung? So bleibt Paul letztlich nur noch die Erinnerung an eine grosse Liebe, an seine erste und einzige Liebe, die sein ganzes späteres Leben beeinflusst hat.

Liebe ist nur ein Wort. Das Konzept, das Julian Barnes Buch „Die einzige Geschichte“ zugrunde liegt, findet sich in der deutschsprachigen Literatur gleich mehrmals. Erstmals begegnet es uns bei Johannes Mario Simmel. In seinem Roman „Liebe ist nur ein Wort“ findet sich als Protagonist der 21-jährige Oliver Mansfeld. Oliver ist der Sohn eines korrupten Industriellen. Er versucht spät, in einem Internat noch sein Abitur nachzuholen. Da verliebt er sich in die zehn Jahre ältere Verena Angenfort, die allerdings bereits verheiratet ist. Verena und Oliver beginnen eine heftige Affäre, die jedoch tragisch endet. Oliver stolpert über die Fallstricke, die eine derart verückte Liebe bereithält, und er begeht schliesslich Selbstmord.

Sie ist reizbar, rätselhaft und viel älter als er… und sie wird seine erste Leidenschaft. Das Konzept von Simmel, bereits 1967 in „Liebe ist nur ein Wort“ angewandt und aktuell von Julian Barnes in „Die einzige Geschichte“ aufgewärmt, findet sich praktisch identisch auch in „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink aus dem Jahr 1995. Der Roman handelt von der ungleichen erotischen Beziehung des Ich-Erzählers Michael Berg zu der um 21 Jahre älteren Hanna Schmitz. Auch von dieser verrückten Liebe erfahren wir rückblickend, und zwar aus der Sicht des nun gealterten Juristen und Autors Schlink. Und auch diese Liebesgeschichte endet tragisch, die Geliebte Hanna begeht Selbstmord. Das Buch wurde in 40 Sprachen übersetzt. Im angloamerikanischen Raum erschien es 1997 unter dem Titel The Reader und wurde zum Bestseller. Könnte es sein, dass Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ dem aktuellen Weltbestseller „Die einzige Geschichte“ von Julian Barnes als Vorlage gedient hat?

Ist eine verrückte Liebe eine Illusion? Die Erzählungen von Simmel über Schlink bis Barnes bejahen diese Frage. Eine erste Liebe, dazu noch zu einem viel älteren Menschen, ist – zumindest in der Literatur – zum Scheitern verurteilt. Im aktuellen Bestseller von Julian Barnes bleibt dem Protagonisten Paul am Schluss bloss noch diese Illusion: Er sammelt gescheite Sprüche und Zitate zum Thema Liebe. Wie schön könnte sie doch sein, die Liebe! So ganz im Sinne des Dichterfürsten Goethe, der über die Liebe schrieb: Freudvoll und leidvoll kann sie sein / Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt / Und doch: Glücklich allein ist die Seele, die liebt.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig