Harry Potters Vermächtnis

Der Bahnhof King’s Cross in London ist der Ausgangspunkt für den Hogwarts-Express, mit dem Harry Potter ins Internat fährt. Seit Harry Potter ist hier nichts mehr, wie es war.
(Foto: Kurt Schnidrig)

Der Zug fährt vom geheimen Geleise 9 3/4 ab. Dutzende von Touristen warten auf dem imaginären Geleise und erhoffen sich einen magischen Blick auf den fiktiven Hogwarts-Express. Das geheime Geleise ist hinter einem unsichtbaren Portal in einer Wand zwischen den Geleisen 9 und 10 verborgen. Weil täglich Hunderte Touristen das legendäre Geleise aufsuchen, hat man nun im Bahnhof an der Mauer zwischen Gleis 4 und 5 ein Schild mit der Beschriftung „Platform 9 3/4“ angebracht. Um dem magischen Geleise Tribut zu zollen, haben findige Harry-Potter-Fans sich eine ganz besondere Installation ausgedacht: Das Vorderteil eines Gepäckwagens wurde an der Wand befestigt, und zwar so, als ob der Wagen gerade dabei sei, in der Wand zu verschwinden.

Im Bahnhof King’s Cross gibt es nun hinter einer Mauer das geheime Gleis 9 3/4 zu „erahnen“. Das Vorderteil eines Gepäckwagens wurde an der Wand befestigt, und zwar so, als ob der Wagen gerade dabei sei, in der Wand zu verschwinden. (Foto: Kurt Schnidrig).

Das Zauberwort heisst „All-Age-Literature“. Was Tausende Harry-Potter-Fans täglich im Bahnhof King’s Cross beweisen, ist die Tatsache, dass es keine Bücher mehr gibt, die ausschliesslich für Kinder und Jugendliche bestimmt sind. Generationenübergreifende Bücher boomen. Die klassischen Kinderbücher sind vom Aussterben bedroht. Seit der Harry-Potter-Romanreihe haben nach einem Verdrängungswettbewerb die sogenannten All-Age-Bücher inzwischen einen riesigen Marktanteil erobert. Und klar, mit All-Age-Titeln wird auch das grosse Geld gemacht.

Das wahre Vermächtnis von Joanne K. Rowling. Das Einstiegsalter für All-Age-Bücher geht immer weiter runter. Dass es sich bei All-Age-Büchern allerdings um Bücher für Menschen von 0 bis 99 Jahren handelt, das ist ein Trugschluss. Gelesen werden die All-Age-Titel von Leser*innen ab 12 Jahren und jungen Erwachsenen. Die All-Age-Titel in den Bestenlisten bringen mittlerweile rund 40 Prozent des Umsatzes für die Verlage. Zurzeit drängen viele Debütanten auf den Markt, die sind alle nicht im Kinderbuch-Bereich angesiedelt, aber sie schreiben Fantasy-Geschichten für Leser*innen jeglichen Alters. Das wohl ist das wahre Vermächtnis von Potter-Autorin Joanne K. Rowling an die Gegenwartsliteratur.

Harry Potter brachte die Leselust zurück. Seit „Harry Potter“ muss auch die Literaturwissenschaft umgeschrieben werden. Die Romanreihe rund um den Zauberlehrling hat eine neue Leselust entfacht, und dies für Jung und Alt. Das hängt damit zusammen, dass diese Bücher „klare und unmissverständliche Botschaften“ haben, wie etwa die Jugendbuchforschung an der Universität Frankfurt herausgefunden hat. Sie seien „deshalb so erfolgreich, weil sie auf den Leser eingehen“. Und dann ziehen die akademischen Literaturkritiker das Fazit: „Der Leser emanzipiert sich ein Stück weit von der hohen Literaturkritik und schätzt wieder die Einfachheit.“

Gab es gute „All-Age-Literatur“ auch schon früher? Persönlich erscheint mir die akademische These von der wieder entdeckten „Einfachheit“ in der Literatur etwas suspekt. Auch in den Zeiten vor „Harry Potter“ gab es Serien und Bücher, die in breiten Bevölkerungsschichten für Leselust sorgten. Ich denke etwa an „Emil und die Detektive“, an „Robinson Crusoe“ oder auch an die Märchen. Auch diese Geschichten, mit denen wir, die reiferen Jahrgänge, gross geworden sind, hätten ein breiteres Publikum verdient. Doch gibt es da einen grossen Unterschied zu heutigen All-Age-Büchern: Erwachsene haben diese Titel damals kaum gelesen. Warum? Weil diese früheren Bücher zu bewusst für Kinder geschrieben worden waren.

Wer zu naiv schreibt, der hat schon verloren. Wer allzu kindlich schreibt, der vermag die Möglichkeiten der Sprache nicht auszuschöpfen. Heutige All-Age-Bücher verstehen es oft blendend – obschon relativ anspruchslos, was ihre literarische Qualität betrifft – auf Leser*innen jeglichen Alters einzugehen. Da verdrängt der bekömmliche „Lesestoff“ der All-Age-Titel die „hohe Literatur“ spielend. Bücher, die Kinder und Erwachsene mit dem gleichen Vergnügen lesen, funktionieren wie Harry-Potter-Romane. Sie bringen volksnah, generationenübergreifend, treffend und ungeschminkt auf den Punkt. Erinnern Sie sich an die Eröffnungsrede von Dumbledore im ersten Harry-Potter-Band? Danach lasen Leserinnen und Leser auf der ganzen Welt plötzlich wieder Bücher.

Die Eröffnungsrede von Dumbledore: „Bevor wir mit unserem Bankett beginnen, möchte ich ein paar Worte sagen. Und hier sind sie: Schwachkopf! Schwabbelspeck! Krimskrams! Quiek!“

Text und Fotos: Kurt Schnidrig