Sisyphus ist zur Ruhe gekommen

„Auf meinem Berg, wo ich meinen Stein hinaufrolle, steht oben ein Kreuz“, schrieb der Oberwalliser Autor René Brunner. Nun ist er gestorben. (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Wir trauern um René Brunner. Als Lyriker und als Autor des Prosabandes „Sisyphus und der Nazarener“ hat er sich einen bleibenden Platz in der Oberwalliser Kulturlandschaft geschaffen. Er bezeichnete sich selbst als einen Sisyphus, weil er im Leben so manches gemacht habe, was zu wenig wichtig gewesen sei. Und dies auch noch mit 80 Jahren. Mit seiner Erzählung von Sisyphus, der einen Felsblock auf ewig einen Berg hinaufwälzen muss, hinterlässt er uns eine Botschaft. Alle jagen wir ein Leben lang nach dem grossen Glück. Wir vergessen darob aber, dass wahres Glück nicht ohne Sinnsuche zu haben ist.

Den Tod überlistet. Autor René Brunner empfahl, seine Erzählung „Sisyphus“, wenn überhaupt, noch im Diesseits zu lesen. Im Jenseits sei alles anders. Er bestand darauf, dies auch auf dem Buchcover zu vermerken. Sisyphus war eine Figur der griechischen Mythologie. Sisyphus verstand es trickreich, den Tod zu überlisten, indem er den Todesgott Thanatos fesselte und ihn dadurch handlungsunfähig machte. Doch dem Todesgott gelang die Befreiung von seinen Fesseln, und er wollte Sisyphus in sein Totenreich holen, in den Hades. Doch erneut gelang es Sisyphus mit Hilfe einer List, ins Leben zurückzukehren: Er verlangte von seiner Frau, ihn nicht zu bestatten und kein Totenopfer für ihn darzubringen. Der Todesgott Thanatos war darob erbost, er musste Sisyphos jedoch erneut ins Leben entlassen. Dass sich Sisyphus dem Todesgott Thanatos gegenüber verweigert hatte, kam ihn aber teuer zu stehen. Zur Strafe musste er einen Felsblock auf ewig einen Berg hinaufwälzen, der, fast oben angekommen, immer wieder vom Gipfel des Berges hinunter ins Tal rollte.

Eine Sisyphusarbeit. Im heutigen Sprachgebrauch ist eine Sisyphusaufgabe oder eine Sisyphusarbeit eine ertraglose und schwere Tätigkeit, die ohne eine Aussicht auf ein glückliches Ende auszuführen ist. In der Erzählung von Autor René Brunner ist alles ganz anders. Sisyphus sieht die Unsinnigkeit seines Tuns ein, und er versucht, von dem Felsblock loszukommen, was ihm auch tatsächlich gelingt. Er flüchtet in eine Alphütte und versucht sich selbst zu finden. Mit einigem Erschrecken wird ihm bewusst, dass die stupide Tätigkeit am Felsblock ihm trotzdem ein bescheidenes Glück vermittelt hat. Er erkennt den Wahn und die Sucht, die ihn dazu veranlasst haben, den Felsblock immer wieder von neuem den Berg hinaufzuwälzen. Und Sisyphus empfindet Ekel und Abscheu darüber, dass er diese Sucht genossen hat. In Brunners Erzählung hat Sisyphus einen anderen Namen. Sisyphus ist Bruno. Als Bruno erkennt, dass der Unsinn des Alltags ihm Spass bereitet, erkennt er die Gefährlichkeit seiner Lage, die auch unser aller Leben widerspiegelt: Wir suchen das Glück oft am falschen Ort!

Das Glück kommt mit dem Glauben. Alle sind wir Glücksritter, stetig auf der Suche nach etwas Glück. Wir suchen intensiv, wir suchen manchmal sogar mit Spass, wir suchen jedoch ohne Sinn. Vieles in unserem Leben ist unwichtig, vieles ist sinnentleerte Alltagsmaschinerie. Dass wir an dieser Stelle die Handbremse in unserem Leben ziehen müssen, dies ist eine Botschaft, die uns der Autor von „Sisyphus“ vermittelt. „Auf meinem Berg, wo ich meinen Stein hinaufrolle, steht oben ein Kreuz“, ist bei ihm nachzulesen. Glücklich macht nur, was Sinn macht. Und der Sinn erschliesst sich nur aus dem Glauben, aus der Theologie, aus der Religion, aus Gott.

Vom Diesseits ins Jenseits. Autor René Brunner wird zu Grabe getragen. Wir sollten seine Erzählung noch im Diesseits lesen, im Jenseits sei alles anders, liess er sich zitieren. Bei der Lektüre von Brunners „Sisyphus“ ist mir eine Stelle ganz besonders in Erinnerung geblieben. Sisyphus (alias Bruno) erinnert sich an eine Begebenheit aus früheren Jahren. Da geht ein Bruder eines Nachts ganz meditativ durch eine Doppeltüre in seinem Kloster, von einem Raum in den anderen. Er öffnet bedächtig die erste Türe; und schaut noch einmal zurück. Dann nimmt er die Klinke der zweiten Türe in seine Hand und öffnet sie ebenfalls sehr behutsam; das Licht aus dem neuen Raum flutet ihm entgegen. Und erst jetzt schliesst er sehr sorgfältig die erste Türe wieder zu. Bruno vergleicht diesen Vorgang mit dem Sterben. So hat der Sterbende immer Licht. Die unheimliche Dunkelheit zwischen zwei Türen findet nicht statt.

Die grosse Müdigkeit des Sisyphus. Nach solchen Nächten und Gedanken war Bruno (Sisyphus) morgens immer sehr müde. Er behauptete, in seinem früheren Leben, als er noch Steine den Berg hinauf wälzen musste, nie so müde gewesen zu sein. Und der Eremit machte diesen Gedanken zu seinem Nachtgebet: „Ich bin so müd und möchte jetzt schlafen. Nun musst DU selber, GOTT, und ganz allein zum Rechten sehn. Und morgen früh kannst DU mich wecken. Dann helf ich gerne DIR, o GOTT, die Erde weiter drehn.“ (Aus: René Brunner: Sisyphus und der Nazarener, Seite 93).

Sisyphus ist zur Ruhe gekommen.

Text und Foto (Symbolbild): Kurt Schnidrig