Die Einsamkeit des Schreibtischtäters

Immer mehr Menschen arbeiten im Homeoffice. Sie arbeiten zu Hause. Immer mehr Unternehmen erlauben ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die Arbeit von zu Hause aus zu verrichten. In Shorts und Badelatschen nehmen sie an Telefonkonferenzen teil. Im Bett sitzend bauen sie den Aktenstapel ab. Fast die Hälfte der Unternehmen in Deutschland erlaubt ihren Angestellten, von zu Hause aus zu arbeiten. Und es werden noch viel mehr werden. Das finden die meisten von uns natürlich reizvoll. Doch hat der Büroalltag zu Hause auch seine Tücken. Zu den verrücktesten Zeiten verschickt man Daten oder checkt seine elektronische Post. Und wenn ein Kind krank ist, dann übernimmt man so nebenbei selbstverständlich auch die Krankenpflege, man ist ja sowieso zu Hause. Und während eines Telefonats lässt sich ja trefflich das Manuskript einer Schülerin korrigieren. Und da warten Berge von Wäsche, hungrige Katzen oder Einkäufe. Irgendwann aber ist man von diesem permanenten Multitasking einfach nur erschöpft. Und Feierabend? Der war mal früher, als man die Bürotür schliessen und nach Hause fahren durfte, um dort das Privatleben zu geniessen.

Die Einsamkeit des Schreibtischtäters. Wer alleine zu Hause sitzt, der fühlt sich nicht nur einsam. Vor allem leidet seine Kreativität darunter. Schon früher, während meiner Studienjahre, habe ich meine schriftlichen Arbeiten mit Vorliebe in der öffentlichen Bibliothek geschrieben. Oder in einem ruhigen Café. Peter Bichsel verriet mir einmal, dass er seine besten Geschichten im Zug, in der SBB, geschrieben habe. In vielen Städten gibt es heute sogenannte Coworking-Spaces, da kann man tageweise einen Schreibtisch bekommen – dies empfiehlt sich vor allem dann, wenn man mal gerade Abstand von zu Hause und den Austausch mit anderen Leuten braucht. Der Schriftsteller Alex Soojung-Kim Pang hat darüber ein Buch geschrieben. Es trägt den Titel „Tue weniger – erreiche mehr“. Was sich wie der Titel eines billigen Ratgeber-Büchleins liest, beinhaltet eine Arbeitsphilosophie, die es in sich hat. Auf den Punkt gebracht: Man sollte nur arbeiten, wenn es einem „läuft“. Und wenn es mit dem Schreiben gerade mal gar nicht weitergeht, ist es besser, einen Spaziergang zu machen. So arbeitet man zwar insgesamt weniger, aber dafür konzentrierter. Das Rezept lautet: Verringere deine Arbeitszeit und sorge für mehr Ruhe zwischendurch. Das ist und war auch das Rezept der grossen Dichter und Schriftsteller.

„Die glühenden Tage wanderte ich durch die Kastanienwälder…“ schreibt Hermann Hesse. Im Spätsommer besuchte ich das Arbeitszimmer von Hermann Hesse in Montagnola im Tessin. Sein Schreibtisch war an die offene Balkontür gerückt, davor breitete sich die weite Tessiner Landschaft aus, die er liebend gerne durchstreifte. Wie inspirierend ein geeigneter Arbeitsplatz sein kann, beschreibt Hesse in seinen Erinnerungen an einen Sommer: „Die warmen Nächte sass ich bis zu später Stunde bei offenen Türen und Fenstern in Klingsors Schlösschen und versuchte, etwas erfahrener und besonnener, mit Worten das Lied dieses unerhörten Sommers zu singen.“ (H.H.: Erinnerung an Klingsors Sommer, 1938).

Am Schreibtisch von Theodor Storm. Im vergangenen Spätherbst war ich auf Spurensuche des Dichters Theodor Storm. Seine Erlebniswelt war die Nordsee, das Wattenmeer, die Deiche und die Halligen. Nur zum Schreiben setzte er sich an seinen Schreibtisch. Während ich an Storms Schreibtisch sass, tauchten die Bilder aus seiner Novelle „Der Schimmelreiter“ in mir auf. An der Wand über Storms Schreibtisch steht geschrieben: „Jetzt aber rührt sich ein alter mächtiger Deichstoff in mir, und da werde ich die Augen offenhalten; aber es gilt vorher noch viele Studien vor Ort.“ Wie Teodor Storm hielten es viele der ganz Grossen der Literaturgeschichte. Sie arbeiteten nur ganz wenige Stunden am Tag am Schreibtisch. Der Rest war Inspiration durch das pralle Leben, das sie umgab.

Tue weniger – erreiche mehr. Dies ist der Titel des Buches von Schriftsteller Pang. Er hat die Biografien der kreativsten Gestalten der Geschichte untersucht und kommt zum Schluss: „Sieht man sich ihre Biografien näher an, stellt man fest, dass sie nur wenige Stunden pro Tag dem widmeten, was wir als ihre wichtigste Arbeit betrachten würden. Den übrigen Tag füllten sie mit Wanderungen oder Nachdenken.“ Als Beispiel nennt er Charles Dickens, der tagsüber gern mit seinen Hunden spazieren ging. Oder Winston Churchill, der sich mitten am Tag ein Nickerchen gönnte. Oder Roald Dahl, der bewusst das Schreiben unterbrach, wenn er mitten in einem guten Satz steckte. Dies deshalb, weil er dann am nächsten Tag einen guten Ausgangspunkt fürs Weiterschreiben hatte.

Die Pause als Quelle der Kreativität. Das Geheimnis des Erfolgs sind nicht Stunden endloser Schufterei. Besondere Leistungen beruhen auf kurzen Arbeitszeiten. Auf vielen Schreibtischen stapelt sich heute immer mehr Arbeit. Da sollte man sich bewusst Pausen gönnen. Die Auszeiten sind eine wichtige Quelle der Kreativität. Es kann auch Sinn machen, spazieren zu gehen, zu meditieren und in den Freizeitmodus umzuschalten. Nachdem Schriftsteller Pang zahlreiche Biografien erfolgreicher Literaten studiert hatte, stand er vor dem Paradox: „Sie richten ihr Leben ganz auf ihre Arbeit aus, nicht jedoch ihre Tage.“

Text und Fotos: Kurt Schnidrig