Der innere Kritiker

Wer publiziert, übernimmt Verantwortung. Ob es sich nun um einen Text, um eine Aussage oder um einen Werbeslogan handelt – alles, was für die Öffentlichkeit bestimmt ist, benötigt Einfühlungsvermögen und Anpassung. Sogar arrivierte Schriftsteller überlassen ihre Texte vor der Veröffentlichung einem kritischen Lektorat. Dies ganz einfach deshalb, weil oftmals die nötige Distanz zum eigenen Schaffen fehlt. Ein Zweitleser oder Lektor erkennt mögliche Fehlinterpretationen auf der Leser- oder Empfängerseite. Auf einen Zweitleser darf nur verzichten, wer über einen zuverlässigen „inneren Kritiker“ verfügt. Dabei handelt es sich um eine innere Stimme, die sich immer dann meldet, wenn wir im Begriffe sind, Fehler zu begehen. Der „innere Kritiker“ verlangt von uns ein faires und ethisch einwandfreies Verhalten.

Den inneren Kritiker ausschalten? Die Sensationspresse und vorab die Werbung schaltet den „inneren Kritiker“ aus. Sie will Aufmerksamkeit erregen, auffallen, provozieren. Koste es, was es wolle. Manchmal wird ein Werbeslogan zwar zum vermeintlichen Rohrkrepierer. Die Oberwalliser Bergbahnen priesen ihre Skipisten mit Hilfe von Kokain-Linien an. Und das von Felsstürzen bedrohte St. Niklaus schaltet Eigenwerbung mit dem Slogan „Zaniglas bringt Steine ins Rollen.“ (WB vom 8. Januar 2019). Derart doppelbödige Slogans spielen offensichtlich mit Fehlinterpretationen auf der Leser- oder Empfängerseite. Beabsichtigt oder unbeabsichtigt? Falls unbeabsichtigt, müssten sich die Verantwortlichen ein gehöriges Mass an Unbedarftheit und Amateurismus vorwerfen lassen. Wer schon nicht über einen „inneren Kritiker“ verfügt, der müsste sich beraten lassen.

Das Teufelchen auf der Schulter. Der innere Kritiker, der uns mit Kommentaren unter Druck setzen kann, hat viele Namen. Der innere Kritiker liesse sich wohl einigermassen treffend umschreiben als „das eigene Gewissen“. Befeuert vor allem durch die sozialen Medien, ist für viele heute das Ausschalten des „inneren Kritikers“ ein erfolgversprechendes Mittel. Auf Instagram hat die deutsche Schauspielerin und Moderatorin Sophia Thomalla ihre Vorsätze für das neue Jahr mitgeteilt – und dabei den „inneren Kritiker“ vollends über Bord geworfen. Ihr Posting lautet: „Weiterhin allen massiv auf den Sack gehen“. Und vollmundig setzt sie noch einen drauf: „Ihr hört von mir“. Sophia Thomalla weiss, wie man Schlagzeilen produziert. Sie liess sich auch schon für eine Lotterie-Gesellschaft ans Kreuz nageln, was insbesondere religiös eingestellte Menschen provozierte. Erstaunlich ist, dass der Erfolg den Provokateuren wie Thomalla und Konsorten kurzfristig recht gibt. Warum? Darüber hat der Facharzt Burkhard Düssler kürzlich ein Buch geschrieben. Er rät dazu, den „inneren Kritiker“ zwar ernst zu nehmen, aber ihn bei Bedarf in die Schranken zu weisen. Dies im Sinne einer Stärkung des Selbstwertgefühls.

Hör auf, dich fertigzumachen! So betitelt der Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie Burkhard Düssler sein Buch, das im vergangenen Sommer erschienen ist (Kailash Verlag). Darin stellt er die These auf, es sei sinnlos, den „inneren Kritiker“ bekämpfen und ausschalten zu wollen. In vielen Fällen sei der „innere Kritiker“ durchaus hilfreich. Er melde sich als innere Stimme etwa mit der Mahnung „Das war unfair von dir!“ In solchen Situationen könne uns der innere Kritiker motivieren und zu gutem Verhalten antreiben, ist der Autor überzeugt. Der „innere Kritiker“ habe jedoch auch eine negative Seite: Der innere Kritiker findet immer etwas. Je übertriebener und verurteilender sich diese innere Stimme meldet, umso mehr kann sie uns mit quälenden Selbstzweifeln plagen.

„Achtung Konflikt!“ In den allermeisten Situationen ist der „innere Kritiker“ jedoch hilfreich. Er alarmiert uns, wenn er eine Bedrohung wahrnimmt, als innere Stimme mit „Achtung Konflikt!“, und er fordert uns auf, für ein faires und ethisch wertvolles Verhalten im Umgang mit den Mitmenschen zu sorgen. Der „innere Aufpasser“ funktioniert wie ein hochsensibles Alarmsystem, dessen Programmierung begann, als wir in unserer Kindheit unsere Denk- und Verhaltensmuster erlernten. Wer diesen „Aufpasser“ ausschaltet, der riskiert, skrupellos und arrogant zu wirken. Aber von einer guten Kinderstube spricht heutzutage eh keiner mehr. Hauptsache Erfolg. Oder?

Text und Foto (Symbolbild): Kurt Schnidrig