Die Schattenseiten des Daseins

Blut schreit nach Blut. Rache ist süss, heisst es. Eine Stunde lang entführte Charles Stünzi sein Publikum auf die Schattenseite des menschlichen Daseins. In der Mediathek Wallis in Brig gestattete er den Damen und Herren einen schauerlichen Blick in die Abgründe der menschlichen Seele. Charles Stünzi spannte den Bogen gar weit: „Die Rache an sich, in der Literatur und insbesondere in Shakespeares Hamlet“, dies die Thematik des stündigen Referats. Dabei sparte Stünzi die Kür für den Schluss seiner Ausführungen auf. Die brillante Kür des Charles Stünzi, das war die englische Literatur, und das war insbesondere Shakespeares Schaffen.  Da blühte der Referent auf, da sprach er frei und losgelöst. Und da rezitierte er gar ein Shakespeare-Sonett frei von der Leber weg, so dass es eine helle Freude war. Zur Pflicht gehörten dagegen eher die Recherchen zum Phänomen „Rache“ in Gesellschaft, Staat und Religion. Dieses unglaublich weit gesteckte Feld beackerte Stünzi mit einer grossen Fleissleistung. Aber da fühlte sich der Hauptfach-Anglist wohl eher „obliged“, das war eine Pflicht, die sich der Referent zusätzlich auferlegte, und die ihn angesichts der knapp bemessenen Zeit sichtlich bedrängte, was der Routinier jedoch mit lockeren Sprüchen gekonnt wegzustecken verstand.

Shakespeares Rachetragödien. Wie der Referent das staunende Publikum fast ganz zum Schluss an seiner Faszination für Shakespeare teilhaben liess, das war mitreissend und berührend. Beeindruckt hat mich, wie der Referent fast ganz zum Schluss das Genie des Theaterautors und Dichters Shakespeare zu enträtseln wusste. Shakespeare habe es geschafft, den Rachegedanken weg von der Blutrache hin zur staatspolitischen Wiedergutmachung zu lenken. Damit habe er aus der „Folie“, die er von Seneca übernommen hatte, im 16. Jahrhundert sehr viel mehr gemacht. Damals war eine dreifache Belehrung angesagt. Die Mysterienspiele und Moralitäten bezweckten religiöse, moralische und staatspolitische Belehrung. Platon und Seneca standen am Anfang dieser Entwicklung und wohl auch des Elizabethanischen Theaters. Grausame und blutrünstige Rache wie in „Medea“ oder in „Titus Andronicus“ steigerte sich bestialisch zu reiner Mordlust. Shakespeares Rachetragödien haben ihren Ursprung in den Stücken Senecas, wie der Referent einleuchtend darlegte. Bereits vor Shakespeare hätten Dichter und Dramatiker wie Christopher Marlowe mitgeholfen, die Rachetragödien in der englischen Literatur zu etablieren. Racheszenen wurden nun nicht mehr bloss als Botenberichte vermittelt, sondern als Racheszenen auf der Bühne dargeboten.

Die Bühne voller Leichen. Die Figur des Hamlet zeigt die Entwicklung von der antiken Racheszene zum kreativen staatspolitischen Rachegedanken. Hamlet begegnet uns in der Totenschädel-Szene als gebildeter Edelmann und als ein brillanter Geist („To be or not to be…“). Nach dem Tod seines Vaters ist er allerdings zu einem düsteren Melancholiker geworden („Schwachheit, dein Name ist Weib…“). Hamlets Abscheu gegenüber staatspolitischer Fehlentwicklung wächst („Etwas ist faul im Staate Dänemark…“). Hamlet mutiert zum Rächer, als der Geist ihn mehrmals mahnt („Gedenke meiner…“). Am Schluss des Stücks nehmen wir die Rache jedoch wahr als vom Schicksal übertragen. Hamlet scheint auserkoren, die Ordnung im Staate Dänemark wieder herzustellen („Bereit sein ist alles…). Damit ist Hamlet mehr als bloss ein Rächer im Sinne Senecas. Tatsächlich, Shakespeare hat aus Senecas „Folie“ mehr gemacht: Von der grässlichen Blutrache hat er den Rachegedanken weg entwickelt, hin zur staatspolitischen Wiedergutmachung. Auch wenn zum Schluss die Bühne voller Leichen ist („Der Rest ist Schweigen“).

Shakespeares Einfluss. In welchem Mass hat Shakespeare die deutschsprachige Literatur beeinflusst? Der Referent gab sich von Shakespeares Einflüssen auf die deutsche Literaturgeschichte zutiefst überzeugt. Lessing sei der erste gewesen, der die Dichter dazu aufgefordert habe, Shakespeare zu folgen. Und Romantiker wie Schlegel und Tieck hätten Shakespeare übersetzt, später dann hätten sich auch Büchner und Grabbe mit ihm auseinandergesetzt. Spätestens bei „Papa Hamlet“ von Johannes Schlaf und Arno Holz wird – meines Erachtens – aber deutlich, dass die Nachfolge Shakespeares in der deutschsprachigen Literatur zwar tatsächlich stattgefunden hat, jedoch oft bloss ironisierend und parodisierend. Holz und Schlaf haben Shakespeares Hamlet zwar als Folie für die eigene Erzählung übernommen, doch wohl eher als einen Anti-Hamlet. Bereits der Titel „Papa Hamlet“ ist als reine Ironie zu verstehen. Auch parodiert die Hauptfigur Niels sich selbst in Dutzenden von Hamlet-Zitaten. Was zu ergänzen wäre: Goethe war es, der in einer Rede Shakespeare zum Urbild des Genies hochstilisierte. Dies vor allem deswegen, weil Shakespeares Drama „The Tragical History of Hamlet, Prince of Denmark“ im späten 19. Jahrhundert zu den meistgespielten Theaterstücken der Weltliteratur gehörte.

Eigenständige Rache-Thematik. Ansonsten aber hat die deutschsprachige Literatur die Rache-Thematik eigenständig abgehandelt, worauf der Referent zurecht hinwies. Beispiele dafür sind bereits in der Germanischen Sage von Wieland, dem Schmied, zu finden und im Nibelungenlied, hier mit Kriemhilds Rache an Siegfried. Für die Neuzeit mag Kleists „Michael Kohlhaas“ den ausufernden Rachegedanken illustrieren, sowie später Dürrenmatts Claire Zachanassian in „Der Besuch der alten Dame“. Die Einteilung in drei Rache-Ebenen, die der Referent vorschlug, ist tatsächlich hilfreich, um die Behandlung des Themas in der Literatur einordnen zu können. In der Zivilgesellschaft werde Rache im Namen der Gesellschaft ausgeübt, dies könne etwa geschehen, indem kriminelle Täter weggesperrt werden, führte Stünzi aus. Rache funktioniere hier zusätzlich als Prävention. In der Religion hingegen sei die Rache allein Gottes Sache („Die Rache ist mein“). In der Mythologie schliesslich fordere die Rache heraus, wer den Anweisungen der Götter nicht Folge leiste. Als Beispiel führte Stünzi die Odysseus-Sage an, in der Poseidon sich an Odysseus wegen des hölzernen Pferdes rächt.

Ist Rache archetypisch im Menschen verankert? Bei solchen und ähnlichen Fragestellungen sprach der Referent äusserst heikle psychologisch-ethische Streitpunkte an. Rache im Sinne einer Vergeltung ist gegen eine Person gerichtet. Vergeltung lasse sich etymologisch herleiten aus dem Mittelhochdeutschen „gelt“, gab der Referent zu bedenken. Mit unserem heutigen „Geld“ bezahlen wir, was uns etwas gekostet hat. Auch im negativen Fall wird Gleiches mit Gleichem vergolten. Vergeltung, oder eben Rache, habe in früherer Zeit durchaus als eine natürliche Antwort auf Böses herhalten müssen, wusste der Referent zu berichten. Für Nietzsche etwa sei „Vergeltung“ eine natürliche Antwort auf Gutes wie Böses gewesen. Spinosa habe herausgefunden, dass Menschen eher zu Rache bereit seien als zu Wohltaten („Rache ist süss“). Und ja, Honoré de Balzac habe gar die Meinung vertreten, dass die Rache „genüsslicher als Sinneslust“ sei. Und Francis Bacon habe die Rache als „wildwachsende Gerechtigkeit“ apostrophiert. Immerhin aber habe bereits der römische Satiriker Juvenal die Rache als „Freude einer niederen Seele“ bezeichnet. Interessant auch die Haltung des französischen Poeten Pierre Corneille. Wer nur halb sich räche, der bringe sich in Gefahr, war dieser überzeugt, und er forderte, Rache müsse „total“ sein. Im christlichen Sinne allerdings gibt es nichts zu deuteln: Rache gilt der Kirche als antichristlich und als Sünde.

Nun ja, der sehr weitgesteckte und originelle Vortrag schreckte auf, faszinierte, wühlte auf, stimmte nachdenklich. Was mich nach dem Vortrag weiter beschäftigt, ist aber der Gegenpart zum Rachegedanken: Wer beackert mal das Feld der „Vergebung“? Was ist das Leichte, was ist das Schwere? Die Rache oder die Vergebung?

Text und Fotos: Kurt Schnidrig