Kinderbücher – aber bitte nur von früher!

Alle Jahre wieder: In der Vorweihnachtszeit boomt das Geschäft mit Kinderbüchern. Schaut man genauer hin, dann sind es Jahr für Jahr die gleichen Kinderbuch-Klassiker, die obenaus schwingen. Dabei gäbe es viele spannende Neuerscheinungen. Lieber wird das Altbewährte hervorgeholt und aufgepeppt. Im Theater La Poste in Visp lief diese Woche der „Michel aus Lönneberga“. Die Streiche des Lausbuben wurden bereits 1963 von Astrid Lindgren veröffentlicht und in den frühen 70er-Jahren erfolgreich verfilmt. Dasselbe geschah andernorts in den letzten Monaten bereits mit „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“. Die Eisenbahner-Geschichte wurde 1960 von Michael Ende herausgegeben und bereits 1962 erstmals verfilmt. Auch neu verfilmt oder neu aufgelegt: „Papa Moll“, „Räuber Hotzenplotz“, „Rösslein Hü“, „Die kleine Hexe“ und immer wieder „Heidi“.

Die Medien als Spielverderber? Vermasselt die Berichterstattung in den Medien vielversprechenden Neuerscheinungen das Geschäft? Elisabeth Eggenberger vom Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM ist davon überzeugt. In der neusten Nummer der hauseigenen Zeitschrift schreibt sie: „Berichte über Kinderbuchklassiker garantieren hohe Einschaltquoten und sind bei den Medien daher entsprechend beliebt.“ Man könne beinahe darauf wetten: Werde „Jim Knopf“ oder „Papa Moll“ verfilmt, oder tauche ein neuer Band von „Räuber Hotzenplotz“ auf, oder werde gar das „Rösslein Hü“ neu aufgelegt, dann klingle bei ihr im SIKJM schon das Telefon. Es seien die Medien, welche diese Bücher mit einer bewundernswerten Regelmässigkeit immer wieder zurück ans Licht holen, meint Eggenberger.

Klassiker als Kitt zwischen Generationen. Beim Griff nach den alten Kinderbuchklassikern ist auch immer etwas Sentimentalität mit dabei. Sehen Erwachsene – und sie sind ja die Käufer von Kinderliteratur – den „Schellen-Ursli“ oder das „Rösslein Hü“ in der Buchhandlung, dann fühlen sie sich in ihre eigene Kindheit zurückversetzt. Zusammen mit der Feststellung, dass gute Geschichten eben überzeitlich sind und kein Alter haben, geben die Erwachsenen die Kinderbuch-Klassiker guten Gewissens weiter an die nachfolgende Generation. Für alle die Käuferinnen und Käufer von Klassikern steht fest: Figuren wie Globi, Mowgli, Michel und Pippi haben auch heutigen Kindern noch etwas zu sagen. Die Themen in den Klassikern sind universell und deswegen auch heute noch von Bedeutung. Sie schaffen ein Gefühl von Vertrautheit zwischen den Generationen. Und ja, sie haben damit auch die wohltuende Nebenwirkung, die Kluft zwischen den Generationen zu überwinden. Die Erinnerung an frühe eigene Leseerlebnisse motiviert den Griff zum bekannten Kinderbuch-Klassiker zusätzlich.

Vielversprechende Neuerscheinungen. Klassiker sind für den Literaturbetrieb eine Bereicherung, das steht fest. Besonders Buchhandlungen und Mediatheken, die nicht über eine persönliche Beratung verfügen, setzen auf Umsätze mit Klassikern. Auch für literarisch wenig interessierte Käuferinnen und Käufer sind bekannte Namen und Titel ein Garant für Qualität. Gute Anbieter haben jedoch auch vielversprechende Neuerscheinungen im Programm. Der „Chinderbuechlade“ in der Berner Altstadt zum Beispiel. Er wurde 2018 zur Buchhandlung des Jahres erkoren. Ruth Baeriswyl führt den „Chinderbuechlade“ seit zwölf Jahren. Sie pflegt und empfiehlt Neuerscheinungen, die ihrer Meinung nach ebenfalls das Zeug zum Klassiker haben.

Alte und neue Klassiker. Ruth Baeriswyl vom ausgezeichneten „Chinderbuechlade“ in der Berner Altstadt, sagt, was ihr als Kinderbuchhändlerin das Herz höher schlagen lässt: „Bücher, die Kinder und Jugendliche ermutigen, sich selbst zu finden, für andere einzustehen, fantasievoll, widerspenstig, stur und trotzig zu sein, und das alles erst noch in sprachlich hervorragenden Formulierungen und einem überraschenden Plot.“ (In: Buch und Maus. Zeitschrift des SIKJM, 3/18). Und sie gibt auch gerne eine aktuelle Leseempfehlung weiter. In diesen Wochen empfiehlt sie „Wir Rüben aus der grossen Stadt“. Mit Bildern von Iris Wolfermann. (Verlag Peter Hammer. Wuppertal, 2018. 122 Seiten, ca. Fr. 21.00).

Ein neuer Klassiker mit all den Werten, die einen alten Klassiker ausmachen – das ist doch bestimmt einen (Lese-)Versuch wert, meine ich.

Text und Foto: Kurt Schnidrig. Buch-Cover: www.chinderbuechlade.ch