Nordisches Reizklima

Ein Aufenthalt an der Nordsee wirkt wahre Wunder. Sonne, Salzwasser und Wind tragen dazu bei, dass das Klima im hohen Norden ein heilsames Reizklima ist. Die kühle und intensive Brise an der Küste fordert den Organismus. Spezialisten wissen: Wer das maritime Aerosol einatmet, der ist weniger allergisch auf alles, was belastet und krank macht. Reizklima? Antiallergikum? Liebe Leserin, lieber Leser, natürlich, ich weiss, Du hast einen Literatur-Blog angeklickt, keinen Medizin-Ratgeber. Aber glaube mir: Das Reizklima an der Nordsee wirkt auch auf Literaten und andere Kopfarbeiter befreiend und inspirierend.

Als Bergler den Blick frei bekommen. In der vergangenen Woche stand ich bei Ebbe am Wattenmeer und habe auf die Flut gewartet. Welch unglaublich faszinierendes Schauspiel! Und plötzlich spielte da mein Kopfkino auch einen ganz neuen Film. Das Kopfkino spulte einen Spielfilm ab, dessen Landschaften und Protagonisten so ganz ungewohnt, so ganz neu, so ganz faszinierend und inspirierend waren. Die Meeresflut schwemmte bisher ungeahnte Ideen an, lang gehegte Pläne erschienen nun plötzlich leicht realisierbar und durchführbar. In unserem engen Tal leben wir eingeklemmt zwischen Bergflanken wie in einem Sandwich. Der Blick reicht gerade mal einige hundert Meter weit. Es gibt Tage, da mutieren die steil aufragenden Bergflanken zum berühmt-berüchtigten Brett vor dem Kopf.

Die Landschaft der Deiche und des Wassers ist ein Reizklima für uns Bergler. Persönlich sehne ich mich immer wieder mal nach einer Veränderung. Die Landschaft prägt auch die Menschen. In einer anderen Umwelt lebt man anders, denkt man anders, schreibt man anders. Wie schreibt ein Schriftsteller im Norden? Was treibt ihn an und um? Der literarische Kosmos von Theodor Storm fasziniert mich seit Studienzeiten. „Er ist ein Meister, er bleibt“, so Thomas Mann über Theodor Storm. Ich wollte mehr erfahren über das Leben des grossen norddeutschen Dichters, seine Novellen und seine Gedichte. Und ich habe mich auf seine Spuren gemacht, in Husum, der Stadt seiner Geburt, in Husum, „der grauen Stadt am grauen Meer“.

Im bedeutendsten Literaturmuseum Deutschlands. Wenn das Geburtshaus eines Schriftstellers nach dessen Tod zum bedeutendsten Literaturmuseum Deutschlands umfunktioniert wird, dann sagt dies auch viel aus über die Wertschätzung, die das Volk der Deutschen diesem Poeten entgegenbringt. Die Geschichte des Storm-Hauses ist über 500 Jahre alt. Nach dem Tod seiner ersten Frau Constanze im Mai 1865 und der Heirat mit Dorothea Jensen im Juni 1866 ist Storm zusammen mit seinen sieben Kindern in dieses Haus eingezogen. Das Wohnzimmer machte der Dichter zum Schauplatz seiner Novelle Viola tricolor, in der intime Familienprobleme verhandelt werden.

Im Poetenstübchen, das sich der Dichter selbst „gedichtet“, d.h. konzipiert hat, schrieb Storm jene Novellen, die mich immer wieder aufs Neue faszinieren. Darunter zum Beispiel „Pole Poppenspäler“, „Waldwinkel“, „Psyche“, „Aquis submersus“ oder „Die Söhne des Senators“. Als ich im Arbeitszimmer des Schriftstellers stand, in seinem „Poetenstübchen“, war ich fasziniert und angetan von der Schlichtheit und Bescheidenheit des Arbeitszimmers. Storm gehörte zu jenen Schriftstellern, die sich die Inspiration „draussen“ in der grossen weiten Welt holen, und die ein Arbeitszimmer erst dann aufsuchen, wenn das „Kopfkino“ nach einem verschriftlichten Drehbuch verlangt.

Im Zimmer des Schimmelreiters. Da sass ich nun am Schreibtisch, an dem Storm die weltberühmte Novelle „Der Schimmelreiter“ geschrieben hatte. Den Schreibtisch hatte Storm von seinen Verehrerinnen zum 70. Geburtstag erhalten. Gleich über dem Schreibtisch prangen die Zeilen: „Jetzt aber rührt sich ein alter mächtiger Deichstoff in mir, und da werde ich die Augen offenhalten, aber es gilt vorher noch viele Studien!“ Die Landschaft und die Auseinandersetzung des Menschen mit den Naturgewalten – mit der Macht des Windes und dem tosenden, entfesselten Meer bei Sturmflut – spielen in der Novelle „Der Schimmelreiter“ eine herausragende Rolle. Den Dichter faszinierte das Geheimnisvolle, Rätselhafte und märchenhaft Romantische einer stillen Landschaft. Und ja, auf ewig auch die Liebe. Mit Dorothea Jansen trat eine Frau in sein Leben, bei der er „jene berauschende Atmosphäre“ fand, der er „nicht widerstehen konnte“. Seine Frau verliess ihn wegen der Geliebten. Und Storm schrieb das „Buch der roten Rose“, das ist ein Liederzyklus, der – wegen seiner Sinnlichkeit – nie veröffentlicht wurde. Da stehen so Strophen wie diese: Es schlang uns ein in wilde Fluten, / Es riss uns in den jähen Schlund; / Zerschmettert fast und im Verbluten / Lag endlich trunken Mund auf Mund.

 Ans Haff nun fliegt die Möwe. So heisst das berühmte Gedicht „Meeresstrand“, das aus dem konkreten Bild der Wattenmeerlandschaft die Vorstellung von der Unendlichkeit der Natur entwickelt: Ans Haff nun fliegt die Möwe, / Und Dämmerung bricht herein; / Über die feuchten Watten / Spiegelt der Abendschein. / Wie Träume liegen die Inseln / Im Nebel auf dem Meer. / Noch einmal schauert leise / Und schweiget dann der Wind; / Vernehmlich werden die Stimmen, / die über der Tiefe sind. 

Und wie die Möwen kreisten auch wir über den Sehnsuchtsorten an der Nordsee. Viel Poetisches und auch Unbekanntes kam zum Vorschein. Doch davon vielleicht ein anderes Mal.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig