Erotisches Kopfkino

Zärtlich, obszön und raffiniert dargeboten, das ist die Einstiegslektüre, mit der ich versuche, den literarischen Kosmos des Schriftstellers Thomas Lehr zu erkunden. Der Roman des diesjährigen Spycher Literaturpreisträgers heisst „Nabokovs Katze“, und keiner weiss, warum der Roman diesen Titel trägt. Der Roman handelt von Georg, der als 15-Jähriger ein sexuelles Trauma einfängt. Was ist passiert? Als 15-Jähriger verliebt sich Georg in Camille. Er glaubt, sie sei seine feste Freundin. Aber sie trennt sich von ihm, bevor er mehr tun konnte, als sie zu küssen. Das traumatische Erlebnis verfolgt nun Georg jahrzehntelang. Georg leidet unter einer erotischen Fixierung. Er ist fixiert auf Camille. Wie aber lässt sich eine erotische Fixierung in den Griff bekommen? Davon handelt der Roman „Nabokovs Katze“.

Ist der Roman autobiographisch? Diese Frage zu stellen ist müssig. Im Roman ist es ein auktorialer Erzähler, der die Geschichte von Georg vermittelt. Dennoch gibt es zumindest einen Anhaltspunkt, gewissermassen einen versteckten Hinweis darauf, dass die Erzählung von Georg autobiographisch sein könnte. Georg wurde 1957 in S. geboren. In Georgs Geburtsort S. lässt sich der Ort Speyer erkennen, dort, in Speyer, ist 1957 auch der Autor Thomas Lehr geboren worden. Im Roman „Nabokovs Katze“ lässt sich Georgs Lebensgeschichte vom 15. Lebensjahr an bis in die Mitte der Neunzigerjahre verfolgen. Was ihn umtreibt, das ist die Suche nach einer Lösung für seine erotische Fixierung auf Camille.

Wie bekommt man eine erotische Fixierung in den Griff? Das kennen wohl viele von uns: Eine kurze Begegnung mit einer faszinierenden Person verändert fortan das ganze Leben. Die Liebe bleibt leider nur ein Kopfkino, das immer neue und immer erotischere Bilder produziert, solange, bis aus der erotischen Fixierung eine obsessive erotische Fixierung resultiert. Als Jugendlicher versucht Georg zuerst, sein Leben verstandesmässig in den Griff zu bekommen. Er versucht, die erotische Fixierung mit Hilfe der Lektüre von Sartre, Heidegger und vor allem Freud loszuwerden. Er versucht, das Verstandesmässige über das Emotionale zu stellen, indem er Mathematik zu studieren beginnt. Seine obsessive Fixierung auf Camille bekommt er so jedoch nicht in den Griff. Um zu überleben, setzt Georg daraufhin auf die Fantasie. Mit Filmen schafft er sich seine eigene Welt. Als Drehbuchautor kann er ausleben, was ihn bedrängt und fixiert. Um die erotische Fixierung zu überspielen, hat er sich ein patentes Rezept zurechtgelegt. Er versucht fortan, den nächsten Traum zu spinnen, bevor der letzte endet.

Erotische und sexuelle Fantasievorstellungen bestimmen die Handlung im Roman „Nabokovs Katze“. Es ist der intellektuelle Ego- und Erotoman Georg, der im Zentrum steht. Alle Nebenfiguren erscheinen bloss mit ihrem Namen, sie bleiben schemenhaft und existieren bloss durch ihre Interaktion mit Georg. Was ich mich während der Lektüre gefragt habe, ist das Folgende: Existiert die Figur der Camille wirklich? Oder entspringt Camille der Fantasie von Georg? Immerhin, Georg überlebt. Er überlebt charakteristischerweise ebenfalls nur mit Hilfe der Fantasie. Sieben Jahre lang ist er mit einer Frau namens Klara verheiratet. Und auch sonst mangelt es ihm nicht an Frauen im Bett. Doch warum nur heisst der Roman „Nabokovs Katze“?

Eine Hommage an Nabokov. Vladimir Nabokov (1899-1977) war ein russisch-amerikanischer Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Schmetterlingsforscher. Im Jahr 1955 provozierte er mit seinem Roman „Lolita“ einen weltweiten Skandal. Darin beschreibt Nabokov die sexuelle Beziehung zwischen einem Mann mittleren Alters und der minderjährigen Tochter seiner Vermieterin. Der weltweit als „l’affaire Lolita“ bekannt gewordene Skandal zog in vielen Ländern ein Verkaufsverbot für Nabokovs Romans nach sich. In den 1960er-Jahren, als im ganzen Westen das Sexualtabu gefallen war, feierten einige Publikationen „Lolita“ als ein literarisches Grossereignis. Erstmals wieder seit „Gone with the Wind“ verkauften sich von einem Roman mehr als 100’000 Exemplare. Mit den Tantiemen, die Nabokov für „Lolita“ erhielt, konnte er sich einen schönen Lebensabend im Palace-Hotel in Montreux am Genfersee leisten. Dort starb er am 2. Juli 1977 und wurde im benachbarten Clarens begraben.

Von „Lolita“ zu „Nabokovs Katze“. Thomas Lehrs Roman „Nabokovs Katze“ weist verschiedene Parallelen zu „Lolita“ auf. Hier wie dort ist es die sexuelle Beziehung eines reifen Mannes zu einem minderjährigen Mädchen, welche die Story vorantreibt. Damals wie heute ist eine derart problematische sexuelle Beziehung tabuisiert. Daran konnten auch die 60er-Jahre nichts ändern, als eine Protestgeneration gegen alle Sexualtabus antrat. So erzählt „Nabokovs Katze“ auch etwas von der Generation, die nach ’68 kam, und die „stets zu klug war, um an irgendetwas zu glauben“, wie dies bereits auf der ersten Seite des Romans zu lesen ist. Vor allem aber ist „Nabokovs Katze“ eine virtuose Abhandlung über das Kopfkino männlicher Sexualität.

Text und Foto: Kurt Schnidrig