Die Saat der 68er-Generation

Der kommende Samstag ist der Tag des Briefeschreibens. Eingeführt wurde der Welttag des Schreibens im Jahr 2014 vom australischen Fotografen und Autor Richard Simpkin. Ihm ging es vor allem darum, dem handschriftlichen Schreiben auch im digitalen Zeitalter einen festen Platz einzuräumen. Es wird viel geschrieben heute, vielleicht nicht mehr von Hand, aber dafür in mannigfacher Form. Einige tippen auf dem Handy herum, andere schreiben Mails oder Kurznachrichten. Dass das Schreiben vor allem bei Kindern und Jugendlichen nicht untergeht, dafür sorgt seit fünfzig Jahren auch das Schweizerische Jugendbuchinstitut, der Vorläufer des heutigen SIKJM, des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien.

Das Schweizerische Jugendbuchinstitut wurde im bedeutungsvollen Jahr 1968 gegründet. Das Jahr 1968 sollte eine ganze Generation prägen, die 68er-Generation. Wer meint, die damalige 68er-Jugend habe sich bloss in Hippie-Manier den Drogen und der freien Liebe verbunden gefühlt, der irrt. Es war dies eine Zeit, in der die Autoritäten hinterfragt und die Gesellschaft neu verhandelt wurde. Die Welt war erschüttert durch die zwei Weltkriege und enttäuscht von der Autoritätsgläubigkeit der älteren Generation. Insbesondere die studentische 68er-Jugend zwang die Verantwortlichen in Erziehung und Politik, auch die Kindererziehung zu hinterfragen. Wie lässt sich die Autonomie des Kindes stärken? Wie kann die Erziehung dem Kind eine Stimme geben? Als eine Antwort auf diese Fragen kam die Kinder- und Jugendliteratur ins Spiel. Die Kinder- und Jugendliteratur der 68er-Generation öffnete sich für die neuen Themen wie Sexualität und Politik.

Das „Heidi“ als Ikone der 68er-Bewegung. Nach den revolutionären Ereignissen des Sommers 68 gründete am 30. November 1968 in Zürich der Literat und Forscher Franz Caspar die Johanna Spyri-Stiftung und das Schweizerische Jugendbuchinstitut SJI. Die Schauspielerin Liselotte „Lilo“ Pulver verlieh mit der Lesung aus „Heidis Lehr- und Wanderjahre“ der Gründung des SJI eine Note des Protestes. Johanna Spyri als eine Ikone der 68er-Protestbewegung? Das kann man so sehen. Ist doch „Heidi“ der Protest eines natürlichen Kindes gegen die Sturheit erstarrter autoritärer Erziehungsformen. Das natürliche und naive Bergler-Kind lehnt sich auf gegen die Repräsentantin der verkrusteten Erziehungswelt, gegen die Gouvernante Fräulein Rottenmeier. Das autoritäre Fräulein Rottenmeier zieht im Kampf gegen das kleine Heidi den Kürzeren. Das ist durchaus passend zur Philosophie der 68er-Protestbewegung. Und Johanna Spyri blieb konsequent. In ihrem Heidi-Buch liess Johanna Spyri kein Happy End zu zwischen dem aufmüpfigen Heidi und ihrer autoritären Gouvernante Rottenmeier. So jedenfalls sah es Franz Caspar, der Gründer des Schweizerischen Jugendbuchinstituts. Wie Johanna Spyri strebte auch Franz Caspar die Synthese an zwischen Protest und Aufbau.

Das Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM entwickelte sich aus der Johanna Spyri-Stiftung heraus, die sich im Jahr 2002 mit den Schweizerischen Bund für Jugendliteratur vereinigte. Das SIKJM mit seinen elf Kantonsgruppen versteht sich heute als gesamtschweizerisches Kompetenzzentrum für Kinder- und Jugendmedien, insbesondere für die Förderung des Lesens und Schreibens.

Kinder- und Jugendmedien Wallis ist eine kantonale Filiale des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien. Als Präsident des Vereins Kinder- und Jugendmedien Wallis setze ich mich seit Jahren ein für die Ideale, welche von der 68er-Protestbewegung entwickelt und vom SIKJM bis heute hochgehalten werden. Es geht um die Autonomie von Kindern und Jugendlichen. Es geht darum, Kindern und Jugendlichen eine eigene Stimme zu geben. Mit der Förderung der Kinder- und Jugendliteratur mit Hilfe von spannenden Lese- und Schreibprojekten ist uns das bis anhin gut gelungen.

Die Saat der 68er-Generation ist aufgegangen und hat Früchte getragen. Als aktuelles Beispiel können die äusserst erfolgreichen Aufführungen von „Mary Poppins“ in diesem Frühjahr 2018 dienen, die unter der Leitung von Jeannette Salzmann im Visper Theater La Poste über die Bühne gingen. Persönlich habe ich das Drehbuch dazu geschrieben, und der Verein Kinder- und Jugendmedien Wallis hat die Produktion unterstützt.

Damit hat der Verein eine Tradition fortgesetzt, die bis zur Gründung in den 68er-Jahren zurückreicht und mit Schreibwerkstätten und Erzählnächten wichtige Erziehungs-Ideale der 68er-Protestbewegung umsetzte: Die Förderung von Lesen und Schreiben, dieser Grundkompetenzen eines jeden autonomen Menschen. Am kommenden 22. September feiert das SIKIJM seinen 50. Geburtstag und wird sich an die Gründung im Jahr 1968 erinnern. Es wird auch eine Erinnerung sein an die 68er-Generation, deren Saat prächtig aufgegangen ist.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig