Offener Brief an Barack Obama

Lieber Kollege Barack

Mit grosser Freude habe ich vernommen, dass du unter die Literaturkritiker und Literaturförderer gegangen bist. Herzlich willkommen im Club, lieber Kollege! Auf Facebook hast du am Sonntag eine Liste mit fünf Büchern veröffentlicht, die du in diesem Sommer gelesen hast. Das Auswählen der richtigen Lektüre gehöre zu deinen Lieblingsbeschäftigungen in dieser Jahreszeit – „ob im Urlaub mit der Familie oder einfach an einem ruhigen Nachmittag.“ Das hören wir alle gern, lieber Barack. Wahrscheinlich erinnerst du dich nicht mehr an mich. Wir haben uns in London getroffen. Du hast mir grosszügig den Platz an deinem Schreibtisch überlassen, während du wortlos, aber immerhin lächelnd, daneben gestanden bist. Auch als Wachsfigur im Wachsfigurenkabinett von Madame Tussaud’s hast du eine gute Figur gemacht (Bild).

In den vergangenen Wochen hast du – nach eigenen Aussagen – unter anderem „Ein Haus für Mister Biswas“ von dem kürzlich verstorbenen  Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul gelesen. Gerne werde ich deinen Lesetipp untenstehend besprechen.  Du bezeichnest den Roman von Naipaul als „grossartigen Roman über das Aufwachsen in Trinidad und die Herausforderung postkolonialer Identität.“ Inzwischen habe ich es dir gleichgetan, lieber Kollege, und habe Naipauls grossartigen Roman als Taschenbuch gelesen, und zwar alle 736 Seiten. Ich gebe dir gerne recht, lieber Kollege: Das ist eine ganz vorzügliche Geschichte. Persönlich finde ich, dass der Roman auch autobiographische Züge hat. Nachdem der Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul am vergangenen 11. August gestorben ist, ist dein Lesetipp zusätzlich noch so etwas wie ein Nachruf auf einen ganz Grossen der Weltliteratur.

Literatur-Nobelpreisträger V.S. Naipaul setzte sich mehr als fünfzig Jahre lang mit dem Thema „Identität“ auseinander. Eigentlich wurde er 1932 als Nachkomme indischer Vertragsarbeiter geboren, ging 1950 als Stipendiat nach Oxford, sein Berufsziel war es immer, ein Schriftsteller zu werden. Nach dem Studium verlegte er seinen Wohnsitz nach England. Eigentlich war er also wohl indischer Abstammung. Naipaul hat es aber immer vehement abgelehnt, sich auf seine indische Herkunft reduzieren zu lassen. Naipaul sagte einmal, er sei weder Inder noch Brite, sondern nur er selbst.

Naipaul – ein Reiseschriftsteller? Naipaul hat uns ein komplexes Werk hinterlassen. Es besteht hauptsächlich aus Erfahrungsberichten von den verschiedensten Regionen dieser Welt. Seine unzähligen Reisen führten in unter anderem nach Indien, Zaire und Uganda, in den Iran, nach Pakistan, Malaysia und Indonesien. Ein Reiseschriftsteller im eigentlichen Sinn war er wohl trotzdem nicht, dafür gingen seine Erfahrungsberichte und Analysen zu sehr über die übliche Form von Reiseberichten hinaus.

Naipaul – ein provokativer Literatur-Star. Naipaul konnte auch überheblich sein, und er rief regelmässig die Kritiker auf den Plan. Vor allem bei den Intellektuellen und bei den Lesern der Dritten Welt hatte er einen schweren Stand. Naipaul wollte den Menschen in der Dritten Welt keine Opferrolle zugestehen. Mehr noch, er machte sie für ihre Misere selbst verantwortlich. Bei seinen öffentlichen Auftritten inszenierte Naipaul liebend gern Skandale, und er setzte sich mit Vorliebe in alle Fettnäpfe. Die Literaturkritiker gingen hart ins Gericht mit Naipauls Vorliebe für koloniale Klischees und Mythen. So war Afrika für Naipaul ein magischer Kontinent von wilder Schönheit und von unbeschreiblicher Romantik.

Ein Haus für Mr. Biswas. Doch nun zum aktuellen Literatur-Tipp von dir, werter Kollege Barack Obama. 2001 erhielt Naipaul den Nobelpreis für Literatur. Zu seinen bekanntesten Werken gehört „Ein Haus für Mr. Biswas“, in dem Naipaul das Leben seines Vaters und seine eigene Kindheit verarbeitet. Als Hintergrund dient ihm in diesem Roman die Welt indischer Einwanderer in Trinidad. Kurz zur Story: Mr. Biswas ist ein wahrer Pechvogel. Er verbringt ein Leben als Unheilsbringer. Das begann schon damit, dass Mr. Biswas‘ Eltern ihn vergeblich für einen guten Beruf zu begeistern versuchten. Mr. Biswas bringt es aber gerade mal zu einem Schildermaler. Ungeplant kommt er zu einer Familie, doch als Vater fehlt es ihm an der nötigen Sensibilität im Umgang mit den Kindern. Das Leben von Mr. Biswas wird völlig vom Familienclan seiner Frau bestimmt, was ihn dazu zwingt, auf Distanz zur Familie zu gehen. Zwar krallt er sich später den Job als Reporter, das leidige Verwandtschaftsgefüge hält ihn aber weiterhin fest wie ein vielarmiges Seeungeheuer.

Eine tragikomische Erzählung. Mr. Biswas ist eine Roman-Figur, die autobiographische Züge von V.S. Naipaul trägt. Auch Mr. Biswas träumt ein Leben lang davon, einfach in Ruhe gelassen zu werden. Er möchte eigentlich nichts weiter, als auf der Veranda seines Hauses eine Tasse heisse Milch trinken. Auf über 700 Seiten berichtet der Autor von den Tragödien und Tiefschlägen des Mr. Biswas. Es ist dies die Geschichte eines Mannes, der nun wirklich nichts Besonderes ist. Und es ist auch die Geschichte von den vielen Schwächen, die einen wie Mr. Biswas ein ganzes Leben lang begleiten.

Yes, we can. Lieber Kollege Barack, das alles habe ich – dank deines Lesetipps – über den Nobelpreisträger Naipaul und über dessen Roman „Ein Haus für Mr. Biswas“ herausgefunden. Ist dieser Mr. Biswas nicht auch so einer, den du in deiner Wahlkampfrede vom 8. Jänner 2008 in New Hampshire gemeint hast? Gewiss wolltest du Mr. Biswas und seinesgleichen zurufen: „Yes, we can“. Du liebtest es, Menschen wie Mr. Biswas mit starken Emotionswörtern direkt anzusprechen und sie zu ermutigen: „I love you back“, „We can do this“ und „There is something happening in America“. Deine motivierende Aufbruchstimmung kommt mit deinem Lesetipp zurück. Dafür ist dir unser aller Dank sicher, lieber Kollege. Yes, we can!

Text und Foto: Kurt Schnidrig