Bevor der Vorhang fällt

Anlässlich seines 75. Geburtstags trat der Oberwalliser Schauspieler Beat Albrecht mit „Gedanken zum Theater“ vor sein Publikum. Beat Albrecht mimte einen alten Schauspieler, der einem jungen Kollegen Briefe schreibt. Darin erklärt er, was ihm das Theater bedeutet.

Lieber Beat. Hab Dank für diesen tiefsinnigen und stillen Abend. Deine Lesung – oder war es eher ein Ein-Mann-Stück – erforderte seitens des Publikums absolute Stille, angestrengte Konzentration und Durchhaltevermögen. Das heutige Medien- und Geschäftsleben ist mit einer 3-Minuten-Rede schon fast überfordert. Es gibt nicht mehr viele, die sich getrauen, eine Stunde lang anspruchsvolle Texte, angereichert mit philosophischen und kulturtheoretischen Betrachtungen, einem Publikum schmackhaft zu machen, das medial verwöhnt dem Zapping verfallen ist. Nur gerade berieselt von diskreten Klängen aus dem Hintergrund, hast du uns alle beeindruckt, und dies ganz ohne Auflockerung durch Showblöcke, wie man sich das heute gewohnt ist. Als dein interessierter Zuhörer und Zuschauer glaube ich vieles mitbekommen zu haben. Stichworte aus deinen Texten blieben bei mir hängen, und ich habe – ich muss es gestehen – diese deine Impulse weitergedacht und weitergeträumt.


Hut ab vor deinem Auftritt. Du hast dich eingangs gleich selbst dargestellt. Ein Komödiant, der in die Jahre gekommen ist, betritt nochmals die Bühne, legt sein Käppi ab, versammelt seine Anhängerschaft um sich und vermacht ihr sein schauspielerisches Erbe. Schon das Betreten der Bühne ist ein heikler Vorgang, erfahren wir dann aus deinem ersten Brief an deine jungen Kollegen. Alle nicken wir, als du in Worte fasst, was wir alle während Jahrzehnten bei deinen Auftritten erleben durften: Können und Feuer braucht es zum Gelingen einer Arbeit.

Wie aber kann auf der Bühne „Ausdruck“ entstehen? Durch die Vereinigung von Körper und Geist. Diese deine Antwort war überraschend. Nicht, dass sie mir nicht eingeleuchtet hätte. Überraschend deshalb, weil heute viele ausschliesslich auf das Körperliche fixiert sind. Körperkult geht vielen über alles. Wo aber bleibt der Geist? Er ist es, der in einem Körper wohnt wie ein Steuermann. Der Geist steuert den Körper. Er schafft Ausdruck in Form von Mimik und Gestik. Ganz allgemein ist der Geist auch jederzeit in der Körpersprache wahrnehmbar. Ein so gearteter Ausdruck wird hervorgerufen durch Impulse. Der Ausdruck ist ein Abbild der inneren Instanz. Du hast für uns alle diesen komplexen Zusammenhang in zwei Zeitabläufe eingeteilt. Auf der Bühne lassen sich zwei Zeitabläufe unterscheiden, jener des Stücks und jener des Ausdrucks.

Der Schauspieler als Bindeglied zur Gegenwart. Was hat der Schauspieler seiner Figur zu sagen? Hat die Figur aus einem Stück auch etwas dem Schauspieler zu sagen? Einfühlungsvermögen ist gefragt. Trotzdem aber gilt es, eine gewisses Mass an Unbefangenheit zu erreichen. Der Schauspieler lebt für diesen einen Augenblick, für diesen seinen Auftritt auf der Bühne. Doch wenn der Vorhang fällt, hat auch der Schauspieler loszulassen, wieder ein anderer zu werden. Das überschätzte Ich spielt bei Schauspielern  eine wichtige Rolle. Doch ist Schauspielerei immer auch Teamarbeit. Oder wie dies die 68er-Künstler auf den Punkt gebracht haben: Jedes Theater ist politisch.

Schauspieler sind keine Selbstdarsteller. Eine fröhliche Figur erfordert keinen fröhlichen Schauspieler. Eine traurige Figur erfordert auch keinen traurigen Schauspieler. Eine Annäherung an die Figur jedoch ist erwünscht. Je näher die Annäherung, je weniger wird die Selbstdarstellung, und umso stärker ist das Kraftfeld, das den Schauspieler umgibt. Die schauspielerische Empfindung gibt der Figur ihren Ausdruck. Die eigene Seele ist dabei nur die Wünschelrute.

Das Leben ist des Traumes Kind. Dieser Aphorismus ist bei mir hängengeblieben. Ich denke, dass wir Literaten und Künstler allesamt auch Träumer sein dürfen, sein können. Das Leben – ein Traum. Was gibt es Schöneres und Kreativeres? Leben ist nicht die nackte Realität. Was ich nicht träumen kann, das kann ich nicht denken. Träumen ist Denken ohne Worte. Wie wunderbar hast du uns das rübergebracht, lieber Komödiant.

Wo bleiben die Utopien? Für die Utopien bleibt in unserer Gesellschaft nicht mehr viel Raum. Utopien für die Zukunft entwerfen heutzutage die Computer. „Das ist nicht meine Welt“, möchte manch ein Zeitgenosse ausrufen. Viele tun sich mit der fremden, computergesteuerten Welt schwer. Doch mag hier ein Aphorismus neue Hoffnung schaffen. Alte weise Männer sollen den Leitsatz geprägt haben: „Das Schwere ist die Wurzel des Leichten.“

Die Welt wird sich weiter drehen. Und sie tut dies trotz der Tatsache, dass der Mensch nicht die Krone der Schöpfung ist. Irgendwann und hoffentlich erst viel später wird die Sonne zu einem Feuerball werden, und alles wird in Asche versinken. Dann wird es Zeit abzutreten.

Ja, ja, der alte Komödiant. Er klebt den Briefumschlag zu. Er stempelt ihn ab. Er setzt sein Käppi wieder auf. Und er folgt der Regieanweisung, die immer dann im Drehbuch steht, wenn der Vorhang fällt:

„Alle ab“

Applaus, Applaus, lieber Beat Albrecht! Ad multos annos!

Text und Fotos: Kurt Schnidrig