Hinter den Kulissen

Ein Blick hinter die Kulissen des Literaturbetriebs kann ebenso spannend sein wie ein Krimi. Wie funktioniert der heutige, immer komplexer, ja immer irrationaler werdende Literaturbetrieb eigentlich? Auf diese Frage versuchte die Walliser Vereinigung der Autorinnen und Autoren deutscher Sprache WAdS eine Antwort zu geben. Eingeladen hatte die Vereinigung zu diesem Zweck Prof. Dr. Mario Andreotti ins World Nature Forum nach Naters (Bild).

Der Literaturbetrieb hat sich stark verändert. Die Zeit der Instanzen, wie sie beispielsweise ein Marcel Reich-Ranicki in Deutschland oder eine Klara Obermüller in der Schweiz verkörperten, gehört der Vergangenheit an. Die Zahl der Literaturkritiker hat zugenommen, vielen fehlt jedoch die literarische Kompetenz, um eine gewagte Meinung oder ein kühnes Verdikt vertreten zu können. Stattdessen füllen belanglose Buchbesprechungen die Zeitungsspalten, sie sind eher Werbung als Literaturkritik. Viele Autorinnen und Autoren fürchten sich vor einem pointierten Urteil, obschon dieses unter Umständen zum Bucherfolg beitragen kann. Der Schweizer Bestseller-Autor Martin Suter ist ein gutes Beispiel dafür. In Deutschland lässt man kaum ein gutes Haar an ihm, trotzdem führt er in der Schweiz die Bestenlisten gleich mit mehreren Romanen an.

Es fehlen dem Literaturbetrieb herausfordernde Berufskritiker, monierte Professor Andreotti anlässlich seines Vortrags in Naters. Überrollt von einer wahren Bücherflut, sei seitens der Literaturkritik häufig nur noch ein Querlesen der vielen Bücher möglich. Das Ergebnis seien deshalb häufig dünne und manchmal auch falsche Angaben statt einer professionellen Buchkritik. Auch Buchpreise würden häufig nach wenig durchsichtigen Kriterien vergeben. Eine kritische Auseinandersetzung oder ein streitlustiger Disput gehörten kaum noch dazu.

Es fehlen häufig ästhetische Kriterien um die Güte eines Romans oder einer Erzählung zu beurteilen, bemängelte Professor Andreotti. Überhaupt würden kaum objektive Kriterien zur Beurteilung eines literarischen Werks zur Verfügung stehen. Er beklagte eine „völlige Subjektivität“. Wer literarische Werke zu beurteilen habe, der müsse die Vorbilder und die literarischen Traditionen kennen, denen das Werk entstamme. Von Franz Kafka bis Martin Walser – alle wichtigen Autoren hätte literarische Vorbilder, gab sich Andreotti überzeugt.

Literarisches Schreiben erfordere Begabung, verlangte Professor Andreotti. Wer zu wenig begabt sei, der solle besser nicht schreiben. Ein finanzieller Erfolg könne nur mit Spitzentiteln eingefahren werden. Angesagte Themen seien der Partnerstress, Familientragödien und das Flüchtlingsproblem, sagte Andreotti. Die Thematik erfolgreicher Bücher müsse medienkonform sein. Die Literaturkritik sei ebenfalls eingebunden ins Mediengeschäft, glaubt Andreotti. Viele Kritiker seien vom Verlag bezahlt, deshalb fehle die Objektivität bei Buchbesprechungen. Häufig würde den selbsternannten Literaturkritikern auch die Ausbildung dazu fehlen.

Zeichnet Professor Andreotti ein etwas düsteres Bild vom Literaturbetrieb? Je nachdem, wes Geistes Kind man ist, lebt man im Literaturbetrieb nach etwas strengeren, wissenschaftlicheren Kriterien. Professor Andreotti ist sehr streng, sehr wissenschaftlich. Persönlich sehe ich die aktuelle Literaturszene etwas offener. Ich habe mich schon nächtelang mit dem so arg kritisierten Martin Suter unterhalten, und ich kann sagen, dass er faszinierend ist. Suter spricht seine Leserinnen und Leser an, er bewegt, er berührt. Seinen Erstling „Die dunkle Seite des Mondes“ habe ich verschiedentlich gar als Schullektüre gelesen, mit dem Erfolg, dass die Schülerinnen begeistert waren und später auch nach anderen Büchern gegriffen haben.

Auch die Unterhaltungsliteratur hat ihre Berechtigung. Sie holt die Hobby-Leser auf der Kommunikationsebene ab, auf der sie sich befinden. Viele davon steigen dann später auf sogenannt „höhere Literatur“ um, zumindest habe ich das so erlebt. Persönlich habe ich auch schon mal „Illuminati“ von Dan Brown in der Schule gelesen. Auf Wunsch der Studentinnen haben wir anschliessend eine Reise nach Rom gebucht. Dort lässt sich trefflich auf den Spuren von Dan Browns Roman wandeln.

Literatur ist ein wenig wie Sport, so meine Sicht der Dinge. Wer im Hochsprung einmal 2.20 Meter schaffen will, der muss zuerst auf einer Höhe von nur einem Meter beginnen. Ich habe nie verstanden, weshalb viele Schulen zuerst mit den schwierigen mittelalterlichen Texten beginnen, um dann kurz vor der Diplomierung erst mit aktuellen, zugänglicheren Texten aufzuwarten.

Eine Zweiklassengesellschaft bestehend aus Lesern und Nicht-Lesern gilt es zu vermeiden. Die Germanisten sollten sich hüten, jedem Buch gleich ein elitäres Label zu verpassen. Persönlich finde ich es keine Katastrophe, wenn jemand mal ein paar Minuten lang mit Rosamunde Pilcher abhängt und sich an den wunderschönen Bildern von den Küsten Schottlands ergötzt. Und – ach Gott! – Frauen dürfen doch auch gelegentlich von den „Göttern in Weiss“ schwärmen. Und wenn Christian Constantin ein Büchlein schreiben lässt, um seinen Olympia-Träumen freien Lauf zu lassen, dann sollte man daran auch das Positive sehen: Das Buch lebt! Es gibt noch Leute, die Bücher lesen, die auch mehr lesen als bloss Whatsup und Twitter. Selbst Professor Andreotti fordert von der Literaturkritik etwas mehr „Wohlwollen“. Es ist allerdings eine Ermessensfrage, wie weit dieses „Wohlwollen“ gehen soll und darf.

Mehr Vertrauen in die genuine Kraft eines Schriftstellers! Häufig schreiben Schriftsteller nach einem Vorbild, sie stehen in der Tradition einer Schule, die sie besucht haben. Doch, so glaube ich, dass gerade deshalb einige dieser Gebildeten selber kein Buch schreiben könnten. Bildung und Vorbilder können auch blockieren. Es gibt auch das Schreiben als Therapie, das Schreiben als Vergangenheitsbewältigung, das Schreiben aus einer Emotion oder aus einem Gefühl heraus. Es gibt viele wunderschöne Bücher in der Weltliteratur, die keinerlei Vorbildern folgen, und die auch nicht in irgendwelchen Schulen geboren wurden.

Text und Foto: Kurt Schnidrig