Im literarischen Salon

Im Rahmen des Literarischen Salons las Engelbert Reul aus dem Buch „Der Verfolger“  von Julio Cortazar. Alex Rüedi begleitete die 75 Minuten dauernde abwechslungsreiche, gehaltvolle und inspirierende Lesung mit dem Saxofon (Bild). Sympathisch betreut von Frau Melanie Sarbach, geriet der Event im Grünwaldsaal der Mediathek Wallis in Brig zu einem Erlebnis für ein literarisch hoch motiviertes und interessiertes Publikum.

Eine ehemalige Studentin von Professor Reul lancierte den Abend. Mit Moderations-Kärtchen in der Hand trat sie vor die Zuhörerschaft. „Er macht alles selber“, liess sie sich entschuldigend vernehmen und wies respektvoll auf den Maestro. Sara Eggel – so der Name der ehemaligen Reul-Studentin – ist heute Orientierungsschul-Lehrerin im Aargau und eine passionierte Leserin. Was tatsächlich auf ihren Moderations-Kärtchen stand? Ich wollte es von ihr nach der Lesung wissen. Und da stand sehr viel Wissenswertes über Julio Cortazar. Hier nur ein kurzer Auszug dessen, was Sara Eggel so alles zu sagen gehabt hätte.

Julio Cortazar habe sich einen Namen gemacht mit seinen Romanen und Kurzgeschichten, brachte Sara Eggel auf den Punkt. Was sie selber ganz besonders anspreche, das sei dieser Mix von Fantasie und Realität, der viele Werke von Cortazar präge. Julio Cortazar sei einer der herausragendsten Autoren der lateinamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Dem Leben zu entfliehen, das habe Cortazar immer wieder versucht. Möglich, dass seine Kindheit und Jugend ohne Vater ein Grund dafür gewesen sein könnte. Julio Cortazar habe in einer sehr eigenen Welt gelebt, in einer Welt auch, die er sich selber zusammengeschustert habe, weiss Sara Eggel. Und was denn eine der grossen literarischen Stärken des Schriftstellers Cortazar gewesen sei, wollte ich wissen. Sara Eggel muss nicht lange überlegen. Starke Dialoge würden Cortazars Werk prägen, und er könne mit nur wenigen Worten in den Köpfen der Leserinnen und Leser eindrückliche Bilder entstehen lassen.  Und genauso war es! Mein Kopfkino lieferte während der wunderbaren Lesung von Engelbert Reul bleibende Bilder und Eindrücke.

Engelbert Reul hat Generationen von Studierenden mit Begeisterung und Faszination an die Literatur herangeführt. Wer mit Reuls ehemaligen Studentinnen und Studenten ins Gespräch kommt, der erfährt ausschliesslich viel Positives über Professor Engelbert Reul. Seine Kompetenz, sein Allgemeinwissen und seine Eloquenz sind dabei häufig genannte Eigenschaften. Seine Vorbildwirkung, seine Kommunikationsfähigkeit und seine mitreissenden und motivierenden literarischen Spaziergänge durch alle Epochen der deutschsprachigen Literatur sind nur einige Facetten unseres Oberwalliser „Literaturpapstes“, als den wir ihn neidlos und respektvoll anerkennen.

Der Verfolger von Julio Cortazar ist eine meisterhafte Erzählung, in der ein Musikkritiker das Leben und die Ansichten des Saxophonisten Johnny Carter mit Bewunderung, aber zuweilen auch mit zweifelnder Ironie zu schildern versucht. Johnny Carter ist ein begnadeter, aber auch ein exaltierter Musiker. Er versucht in der Musik die Unmöglichkeit zu leben, fühlt sich dabei jedoch grenzenlos unverstanden. Johnny Carter ist ein Künstler, der sich stets zu neuen Höhepunkten treibt. Drogenabhängig und schizophren zerstört sich der geniale Jazzmusiker selbst. Engelbert Reul findet Cortazars Erzählungen „tragisch“ und „der Nacht näher“, seine Sprache habe „Herzschlag“. Warum aber der Titel „Der Verfolger“?  Der Saxophonist Johnny Carter sei in seiner Kunst ein rücksichtsloser Verfolger des Absoluten, lässt sich den biographischen Anmerkungen entnehmen.

Der Jazzmusiker Johnny Carter, der Protagonist in Cortazars Erzählung, spielt wie ein Gott auf dem Saxophon. Die Musik hilft ihm, diese Welt ein wenig besser zu verstehen. Sicherheit in Carters Leben gibt es jedoch nicht, denn „vielleicht wendet sich alles wie ein Pfannkuchen und plötzlich liegst du mit einem bildhübschen Mädchen im Bett und alles ist rundum wunderbar.“ (Verfolger, S. 13). Für Johnny ist die Zeit ein bestimmender Faktor. „Das mit der Zeit ist so kompliziert, es überfällt mich überall. Langsam wird mir klar, dass die Zeit nicht so was wie ein Sack ist, der sich füllt. Ich will damit sagen, dass in den Sack, auch wenn der Inhalt sich ändert, nicht mehr hineingeht als eine bestimmte Menge, und damit aus.“ (Verfolger, S. 18).

Die Jazzmusiker Alex Rüedi und Johnny Carter haben zumindest eine Gemeinsamkeit: Beide spielen auf ihrem Saxo mit viel Lust und mit grossem Können. Johnny Carter schwärmt: „Es ist ein grossartiges Saxo; als ich gestern darauf spielte, war mir, als schliefe ich mit einer Frau.“ (Verfolger, S. 39). Tatsächlich ist das Wortspiel „Sax und Sex“ für Johnny Carter nicht bloss ein Wortspiel. Doch nur er vermag abzuschätzen, was er, während er spielte, geerntet hat, und wahrscheinlich ist er schon wieder bei etwas anderem. (…). Seine Eroberungen sind wie ein Traum, er vergisst sie, wenn er erwacht, wenn der Applaus ihn zurückholt, ihn, der so weit weg ist und seine Viertelstunde in anderthalb Minuten lebt.“ (Verfolger, S. 45).

Grossartig vorgetragen von Engelbert Reul, durchströmte diese dialogstarke Erzählung aus dem Jahr 1959 urplötzlich wieder das Leben unserer Zeit und unserer Aktualität. Reuls perfekte Diktion, seine animierende Sprachmelodie und seine immer wieder nach Aufmerksamkeit strebende Intonation erlaubten ein unvergessliches Eintauchen in die südamerikanische Literatur einer längst entschwundenen, aber hoch spannenden Epoche.

Text und Foto: Kurt Schnidrig

Literatur. Julio Cortazar: Der Verfolger. Aus dem Spanischen von Rudolf Wittkopf. Suhrkamp Verlag. 2. Auflage 2016. 99 Seiten.