Durch Mauern gehen

Eine Welt ohne Grenzen? Fehlanzeige! Wohin auch immer man sich wendet, das gleiche Elend. Die Menschen mauern sich ein. Im Zeitalter der digitalen Vernetzung ziehen immer mehr Staaten und Menschen rund um sich Mauern hoch.

Ein Leben hinter Mauern. Der amerikanische Präsident baut eine Mauer zu Mexiko. Israel zieht eine Mauer quer durch die Westbank. Saudiarabien sichert seine Grenze zu Jemen mit einer drei Meter hohen Betonmauer. Usbekistan zieht einen Zaun hoch auf der Grenze zu Afghanistan und zu Kirgistan.  Brunei errichtet eine Mauer gegen die Einwanderung aus Indonesien. Iran versteckt sich vor Pakistan hinter einer Mauer. China drängt Nordkorea hinter eine Mauer. Die Rechtspopulisten in Europa mauern gegen die Flüchtlingsströme.

Im Bahnhof Kings Cross in London steckt ein Einkaufswagen in einer Mauer fest (Bild). Alle Harry-Potter-Fans zieht es hierhin, um das berühmte Gleis 9 3/4 zu sehen. Wir schlenderten ahnungslos auf Bahnsteig 9. Doch eine freundliche Bahnhofsmitarbeiterin verwies uns auf Gleis 1, und die dort eigens eingerichtete Gleis 9 3/4 – Mauer. Ein halber Einkaufswagen ist dort in der Mauer verschwunden. Es ist dies der perfekte Hintergrund für eine Zauberfoto. Von dem verborgenen Gleis neundreiviertel aus verkehrt der Hogwarts Express, der die Schülerinnen und Schüler von Hogwarts wieder zum Bahnhof Kings Cross zurückbringt. Magische Menschen riskieren, hier plötzlich vom Erdboden verschluckt zu werden. Wer hier durch die Mauer geht, der verschwindet und taucht in der Muggelwelt wieder auf. Leider funktioniert dies alles nur in den Harry-Potter-Romanen. Die Mauern in der realen Welt lassen jede Magie und Poesie vermissen.

Mauern aus Stein und Beton markieren den Niedergang der nationalen Souveränität. Sie sind eine dramatische Inszenierung von Macht und Schutz. Die Mauern sollen Sicherheit symbolisieren. In Tat und Wahrheit symbolisieren sie jedoch eine Bankrott-Erklärung der Politikerinnen und Politiker. Zu diesen Schlussfolgerungen gelangt Wendy Brown, die Autorin des Buches mit dem Titel „Mauern“, das soeben im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Die amerikanische Politologin Wendy Brown schreibt in ihrem Buch Klartext. Mauern seien keine wirtschaftlich vernünftige Antwort auf die politischen Probleme. Zudem seien die teuren Abschottungs-Bauwerke technisch ineffizient.

Mauern lösen unsere Probleme nicht. Die grossen Probleme der Menschheit lassen sich nicht durch Mauern aufhalten. Es sind dies die Probleme, welche Naturkatastrophen verursachen, die Klimaerwärmung oder die Migration. Im Gegenteil. Mauern verschärfen die Probleme der Menschheit noch zusätzlich. Zugemauerte Grenzen lassen neue Formen der Selbstjustiz entstehen. Mauern befeuern das organisierte Verbrechen innerhalb eines Landes. Inmitten von Mauern kann  nationalistisches Gedankengut bestens gedeihen. Somit richten sich Mauern gegen etwas, was sie eigentlich schützen sollten: Sie richten sich gegen die staatliche Souveränität.

Brücken und Worte statt Mauern. Wann nur wird unsere Welt einsehen, erkennen, umdenken?

Text und Foto: Kurt Schnidrig