Standing Ovation

Standing Ovation. Für die 300 Mitmachenden der Briger Musiknächte. Für Musikdirektor Hansruedi Kämpfen und sein Führungsteam. In der Freitagnacht dauerte sie mehr als 10 Minuten, die Standing Ovation. Ähnlich wie mir erging es wohl auch meinen 299 Kolleginnen und Kollegen, die sechsmal auf den Bühnen der Briger Simplonhalle standen. Da war ein Kribbeln, da war eine Freude, da war eine tiefe Dankbarkeit. Standing Ovation für unseren Maestro, für Hansruedi Kämpfen. Er ist und bleibt der Beste weit und breit. In Brig, im Oberwallis, in der Schweiz, in ganz Europa. Vom Wallis erhielt er bereits 2001 den Walliser Kulturpreis zugesprochen. Auf nationaler Ebene hat er sich als „Chorpapst der Schweiz“ einen Namen gemacht. Als Musikpräsident des grössten Chorverbands „Europa cantat“ ist er auch international ein Star der Szene.

Hansruedi Kämpfen kreiert Projekte für das Leben. Beide sind wir Jahrgänger. Beide haben wir am Oberwalliser Lehrerseminar unterrichtet. Hansruedi Kämpfen verstand es grossartig und unnachahmlich, die angehenden Lehrerinnen und Lehrer musikalisch und insbesondere auch gesanglich auf ihren Job in den Schulstuben vorzubereiten. Als Deutschlehrer durfte ich mehrmals in Projekten mit Hansruedi zusammenarbeiten. Meine Gedichte, Texte und Geschichten wurden mit Hansruedis musikalischer Unterstützung zu Höhepunkten und hochfliegenden Projekten. Projektartig arbeiten, für junge Menschen musische Erlebnisse kreieren, an die sie sich ein Leben lang erinnern werden, das war eine der vielen Stärken. Hansruedi arbeitete ganzheitlich. Er verstand es, alle, wirklich alle Sinne der Jugendlichen anzusprechen. Gerne erinnere ich mich an eine Velotour, die ich mit Hansruedi zusammen und Dutzenden von Schülerinnen im Kanton Aargau unternehmen durfte. Die Projekte mit Hansruedi waren nicht einfach nur Projekte für die Schule, es waren dies Projekte für das Leben.

Was bei Musikpädagoge und Musikdirektor Hansruedi Kämpfen die Regel war: Keine Seminaristin, kein Seminarist verliess das Seminar, ohne dass sie/er fähig war, mindestens ein Instrument zu spielen und zu singen. Ganzheitlicher Unterricht war angesagt. O wie schätzte ich es, jenen Studierenden Unterricht zu erteilen, die bei Hansruedi Kämpfen Musik und Gesang studierten. Wie oft haben wir im Deutschunterricht nicht bloss über ein literarisches Werk gesprochen, sondern auch dazu gesungen.

Hansruedi startete Ende der Achtzigerjahre als jüngster Dirigent seine internationale Karriere mit dem Oberwalliser Vokalensemble und gewann auf Anhieb den Chorwettbewerb im italienischen Gorizia. Was mich damals besonders freute, er gewann mit seinen Interpretationen des Liedguts aus der Romantik. Die Romantik! Sie war auch meine bevorzugte literarische Epoche. Volkslieder und Märchen in gespielter und gesungener Interpretation waren unabdingbar und wichtiger Bestandteil in meinem Deutschunterricht, insbesondere im Kindergärtnerinnenseminar. Wie durfte ich da von der wunderbaren Arbeit meines Kollegen Hansruedi Kämpfen fächerübergreifend Nutzen ziehen!

Dann kam die Hiobsbotschaft, das Lehrerseminar werde abgeschafft. Zusammen mit einer Kollegin, die am Seminar Psychologie unterrichtete, stieg ich auf die Barrikaden. Das drohende Unheil hiess PH. Mit ihr drohte die Ganzheitlichkeit der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung verloren zu gehen. Geradezu ein Schockerlebnis war für mich die Tatsache, dass jungen Frauen mit emotionaler Intelligenz nun der Zugang zu ihrem Traumberuf verbarrikadiert sein sollte. Das Seminar besuchten damals viele junge Frauen, die fantastisch mit Kindern umgehen konnten, Frauen mit Empathie, mit Sozialkompetenz. Es waren Frauen, die über all jene weichen Faktoren verfügten, welche sie zur Kindererzieherin befähigten. Es waren auch Frauen, die musikalisch und gesanglich hervorragende Voraussetzungen mitbrachten. Nun mussten sie vor der PH erst eine Mittelschule absolvieren. Diese hat bis heute primär jedoch analytische und zu wenig berufsspezifische Inhalte.

Mit der Einführung der PH wurde Mitte der Neunzigerjahre eine Entwicklung angestossen, die bis heute weitreichende Folgen hat. Insbesondere der musische Bereich mit den Fächern Musik und Gesang erlitt einen herben Rückschlag. Um dem musischen Bereich weiterhin Tür und Tor zu öffnen, hatte ich damals eine Initiative an den Grossen Rat des Kantons Wallis gerichtet. Schützenhilfe erhielt ich von einer bekannten Psychologin. Es ging uns um die ganzheitliche Förderung der Studierenden durch entsprechend ausgebildete Lehrpersonen, was die PH unseres Erachtens nicht erreichen konnte. Schwerpunkte sollten Musik und Gesang sein. Dazu kamen zentrale Fixpunkte wie flexibles und kreatives Denken sowie eine gehörige  Portion Intuition, frei von Zwängen. Damit hatte ich auch die Aufmerksamkeit des Kreativitätsforschers Gottlieb Guntern gewonnen. Er sagte meinem Trägerverein seine Unterstützung zu. In Gunterns Gedankengängen aus dessen Buch „Im Zeichen des Schmetterlings“, einem Plädoyer für Kreativität und Flexibilität, sahen ich und meine Crew denn auch bedeutende Inhalte für das geplante Oberwalliser Zentrum für das Vorschulkind. Das Parlament beugte sich jedoch dem riesigen Druck der Bildungspolitiker, die eine Breitbandausbildung für alle Lehrpersonen vorsahen. Musik und Gesang konnten darin niemals mehr einen ähnlich hohen Stellenwert einnehmen, wie im früheren Lehrerseminar.

Wer die Briger Musiknächte besucht, der wird auf eine Hundertschaft von ehemaligen Kämpfen-Schülerinnen und Kämpfen-Schülern treffen. Für die singende und musizierende Jugend hat Hansruedi Kämpfen seit Mitte der Neunzigerjahre Grosses geleistet. 1994 gründete er den Schweizer Jugendchor, dem er 24 Jahre als künstlerischer Leiter vorstand und den er zu einem der besten Jugendchöre Europas machte. Im Jahr 2007 erhielt er dafür den 1. Chorpreis der Lamprecht-Steiger-Stiftung. Ebenfalls 1994 gründete er die Singschule Oberwallis, die er ab 2002 zu einer der besten Singschulen des Landes aufbaute.  Als Pädagoge bildete er an der Allgemeinen Musikschule eine Generation von Chorleitern aus.

Heute ist der Musik- und Gesangunterricht mehrheitlich auf Lehrpersonen angewiesen, die selber ein Flair für die Muse haben. Diesen Sachverhalt kann ich aus eigener Anschauung illustrieren. Seit Ende der 90er Jahre unterrichtete ich im Mittelwallis, teils an der Hochschule, teils an der Fachmittelschule. Dort traf ich eine charakteristische Situation an. Zwar waren junge Musiklehrer und PH-Abgänger offiziell als solche angestellt. Das Singen und Musizieren war für diese jedoch ein Fremdwort. Sie teilten Kopien aus dem Fotokopierapparat aus. Sie erklärten den Aufbau von Musikinstrumenten ab Blatt. Sie dozierten die Funktionsweise von Musikstücken ab Blatt. Die jungen Frauen hatten jedoch das Bedürfnis, aktiv zu singen und aktiv zu musizieren. In dieser Situation beschloss ich, Chorleiter- und Dirigentenkurse zu nehmen. Erst übte ich mit Freiwilligen kleine musikalische Ständchen zu besonderen Anlässen ein. Später leitete und dirigierte ich einen Chor von über 40 jungen Frauen, wir führten Musicals auf in fast allen grösseren Theatern des Wallis. Das war natürlich reine Amateur-Arbeit im Vergleich zu den Projekten, die ein Star wie Hansruedi Kämpfen abliefert.

Wie sehr wird uns Musikdirektor Hansruedi Kämpfen nach den Briger Musiknächten fehlen! In Brig aufgewachsen, fühle ich mich auch heute noch als Briger. Die Briger Musiknächte haben schmerzlich aufgezeigt, was alles fehlen wird, wenn Musikdirektor Hansruedi Kämpfen abtritt. In Brig wie anderswo ist ein Trend erkennbar, der mehr als nur gefährlich ist. In der Politik haben die Erbsenzähler die Macht übernommen. Natürlich braucht es die Erbsenzähler auch, sie garantieren ein ausgeglichenes Budget. Trotzdem benötigt auch die Politik wieder ein ganzheitliches Denken. Es werden sündhaft viele Gelder gesprochen für den Sport, für Sportanlagen und für die Sportler selber. Die Geldgeber aus Wirtschaftskreisen machen da wacker mit. Banken, auch Genossenschaftsbanken, sponsern lieber eine Profi-Fussball-Liga, weil man sich da sichtbare Werbung verspricht. Man vergisst jedoch, dass  Kulturförderung, insbesondere die Förderung von Musik und Gesang, viel mehr zur (auch psychischen) Gesundheit des gesamten Volkes bis ins hohe Alter hinein beitragen kann.

Standing Ovation würden sich auch jene verdienen, die sich nicht bloss als Erbsenzähler profilieren. Gesucht sind Entscheidungsträger, die ganzheitlich denken. Gesucht sind Politiker, die den hohen Wert von Musik und Gesang, von Kultur allgemein, für ihre Bürgerinnen und Bürger erkennen. Die Wiederbesetzung des wichtigen Amts des Musikdirektors wäre ein neuer Anfang in die richtige Richtung.

Text und Foto: Kurt Schnidrig