Let the Sunshine In

Lange Haare, Esoterik, Räucherstäbchen, LSD und freie Liebe. War das wirklich alles, was die 68er Hippiebewegung zu bieten hatte? Nein. Da war viel mehr. Darüber diskutierten wir gestern Nacht. Wir, das Publikum des Hippie-Musicals „Hair“(Bild). Nach den Schlussszenen gab es eine imposante Standing Ovation und alle sangen wir „Let the Sunshine In“. Und es schien uns, als ob trotz der kalten und dunklen Winternacht im Theater La Poste ein klein wenig Sonnenschein unsere Herzen wärmte.  Das Besondere an „Hair“ ist die Geschichte hinter dem Musical. Das Lebensgefühl von damals rüber zu bringen, ohne altbacken und voller Klischees zu wirken, das ist eine Herausforderung für die Regie. Die Broadway Musical Company New York und der Herausgeber und Tourneeveranstalter Frank Serr Showservice International präsentierten ein farbiges, gelungenes Remake mit stimmgewaltigen Sängerinnen und überzeugenden Show-Stars.

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Claude und Berger, zwei Freunde, die mit Gleichgesinnten aufbegehren gegen die strengen Moralvorstellungen und gegen die Beschränkungen, die ihnen die Gesellschaft in den USA gegen Ende der 1960er-Jahre auferlegt. Sie sind überzeugt, eine neue Lebensform gefunden zu haben, die geprägt ist durch die Liebe zueinander, durch Gewaltlosigkeit und Frieden. Vor allem ist es der Vietnam-Krieg, von dem sich die damalige Jugend bedroht fühlt. Erstmals weigern sich junge Leute, Teil der US-amerikanischen Kriegsmaschinerie zu werden. Einige von ihnen flüchten in die Welt der Drogen. Berger muss die Universität verlassen, weil die Professoren einen langhaarigen Rebellen, der Drogen konsumiert, nicht dulden wollen.

Kann Rauschgift helfen, die Wirklichkeit erträglicher zu machen? Es sind solche Botschaften und Fragen, auf die das Musical klare Antworten bereit hält.  Claude zieht in den Krieg und wird tatsächlich von vietnamesischen Kämpfern erschossen. Berger erweist der Leiche seines Freundes, die auf einem schwarzen Tuch liegt, die letzte Ehre. Claude ist inzwischen unsichtbar geworden, die Hippies können ihn weder sehen noch hören, aber Claude kommt zurück und erzählt, dass er ein Opfer des Kriegs geworden ist. In einem letzten Auftritt besingt Claude zusammen mit Berger die Schönheit des Hippie-Daseins. Berger will fortan nichts tun, sich treiben lassen, high bleiben.

Die Blumenkinder von damals waren alles andere als Gammler und Faulenzer. Wenn das Musical „Hair“ eine klare Botschaft hat, dann ist es diese: Die Revolte der späten 60er-Jahre repräsentierte die Gefühle einer ganzen Generation.  Es waren Studenten, Schüler und Arbeiter, die am eigenen Leib die Angst und die Hoffnungslosigkeit einer Zeit verspürten, die geprägt war von Krieg, Gewalt und Hass. Mit der 68er-Generation keimte neue Hoffnung auf. Es war dies die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Dieses neue Lebensgefühl hat das Musical „Hair“ wunderbar eingefangen. Unterlegt von einer tiefsinnigen Lyrik, getragen von mitreissenden Songs und Hymnen und präsentiert von effektvollen Choreografien verströmt das Musical eine Aufbruchstimmung, die auch uns Heutigen wohl bekommt.

Das Kreativ-Team des Musicals „Hair“ hat sich viel Zeit genommen, um in das Stück einzutauchen. Der Regisseurin und Choreografin Kendra Payne ist es überzeugend gelungen, diese leidenschaftliche Magie und diese psychedelische Wirklichkeit der 60er-Jahre in eine Show zu verpacken. Die grossen Ideen von Gegenwehr, von Frieden und von Liebe dürfen nicht zu leeren Schlagworten verkommen, niemals.

Das Musical „Hair“ steht für eine radikale pazifistische Philosophie. In Zeiten, da Nordkoreas Diktator und Amerikas Präsident wie kleine Kinder darüber streiten, wer den grösseren Starter-Knopf hat um Atom-Raketen zu zünden, würde man sich wünschen, dass die vielen Alt-Hippies unserer Welt nochmals aufstehen würden. Mit einer Symbiose aus harten, provokativen Szenen und einer friedlichen und weichen Poesie propagiert das Musical „Hair“ auch heute noch eine Gesellschaft jenseits von Krieg, Gewalt und nicht legitimierter Autorität.

Text und Foto: Kurt Schnidrig