Model, Tierärztin oder Fussballprofi?

Zu den schönsten Augenblicken in meiner Berufskarriere zählte jeweils die Übergabe der Diplome und Zertifikate an meine Studentinnen und Studenten. Stolz und aufrecht holten sie Ende Juni ihren „Fackel“ ab, und sie taten dies im Bewusstsein, dass sich jetzt alle Tore und Türen dieser Welt für sie öffnen würden (Archivbild). In den darauf folgenden Monaten und Jahren folgte dann für die jungen Menschen die grosse Bewährungsprobe. Für einige wenige blieb der Job zeitlebens der Traumberuf ihrer Kindheit und Jugend. Doch leider lassen sich berufliche Wunschvorstellungen – wenn überhaupt – nur selten spektakulär verwirklichen. Es ist ein grosses Glück, die eigene Berufung leben zu können.

„Your Challenge“, so heisst die Berufs- und Ausbildungsmesse, die in diesen Tagen in Martinach viel bildungswilliges Volk anlockt. Darunter sind Studierende und Erwachsene, die sich Gedanken über ihre berufliche Zukunft machen. Von Tourismus und Gastgewerbe über Bau und Handel bis hin zu Technik und Industrie sind alle Branchen der Walliser Arbeitswelt vertreten. Für den Bereich der Höheren Bildung und Weiterbildung präsentiert sich die HES-SO Wallis und sogar die Universität Genf. Mit einigem Erstaunen habe ich im Lokalblatt gelesen, dass leistungsstarke Jugendliche heute oft in Richtung Studium „gepusht“ würden (WB vom 21.02.2018). Wirklich? Soll das wirklich der Grund sein, weshalb „viele Industriebetriebe in der Schweiz heute Mühe haben, genügend Jugendliche zu finden, die sich für einen technischen Beruf entscheiden“, wie ein Verantwortlicher des Vereins Promotion Industrie Wallis sagt? Die Wahl des Berufs hängt heute mehr als früher mit der eigenen Berufung zusammen. Und den einzig wahren Beruf gibt es für viele wohl schon längst nicht mehr.

Vom Glück, die eigene Berufung zu leben, erzählt das gleichnamige Sachbuch von Mathias Morgenthaler. Er geht der Frage nach: Wie kann man ausleben, was man wirklich gern tut?  Der Autor empfiehlt, sich selber immer wieder neu zu erfinden. Sowohl das Studium als auch die übrigen Arbeitswelten lassen sich bei modern eingestellten Persönlichkeiten gut in Einklang bringen. Statt jahrzehntelang dem gleichen Beruf nachzugehen, empfiehlt Coach Morgenthaler den Umstieg und den Ausstieg. Ein Betriebsökonom engagiert sich eine Zeitlang für ein Projekt in Bolivien. Ein Theologe wird zum Feuerwehrmann. Eine Pharma-Angestellte nimmt eine Ausbildung zur Pilotin in Angriff. Solche und ähnliche Beispiele zeigen, dass alles möglich wird, wenn man sich nur traut, seine eigene und ganz persönliche Geschichte zu schreiben und zu leben.

Oftmals lässt sich die eigene Berufung und Bestimmung gar in mehreren Bereichen ausleben. Als Germanist und Literat habe ich meine technische Seite als Dozent in der Ausbildung von Wirtschaftsinformatikern ausleben können, meine musisch-poetische Seite als Deutschlehrer und Regisseur. Wer umsteigen oder aussteigen möchte, der muss auf seine innere Stimme hören, der darf nicht davor zurückschrecken, auch mal aus der Reihe zu tanzen. Die eigenen Ideen und Fähigkeiten umzusetzen und zu leben, das ist es, worauf es ankommt. Es empfiehlt sich, den Umstieg oder gar Ausstieg zuerst im Kleinen zu proben. Warum nicht zuerst mal mit kleinen Veränderungen des eigenen Lebens spielen? Einmal woanders essen gehen, als wie gewohnt. Versuchen, Menschen zu begegnen, die man noch nicht kennt. Es gilt, den Alltagstrott zu durchbrechen. So signalisieren wir unserem Hirn, dass Veränderungen willkommen und ungefährlich sind.

Traumberufe im Kindesalter haben mit der späteren beruflichen Realität nicht viel gemein. Die Mehrheit der Träumer ergreift schliesslich einen weitaus weniger spektakulären Beruf. Eine Sales-Managerin wollte früher Hebamme in Afrika werden. Der Möbeldesigner träumte früher von seinen Eskapaden als Clown. Solche Beispiele zeigen: Bei den meisten Menschen sind Traumberufe nicht das Resultat einer Reflexion über das eigene Können und auch nicht über die Anforderungen der Arbeitswelt. Nicht selten prägen jedoch Traumberufe die spätere reale Berufswahl. Dies hängt damit zusammen, dass die Berufswahl viel mit Identifikation zu tun hat. Einen Einfluss auf die Berufswahl hat in diesem Zusammenhang die politische und gesellschaftliche Aktualität. Eine Untersuchung während der letzten Fussball-Europameisterschaft förderte zu Tage, dass nicht weniger als ein Viertel der Knaben gerne Fussballprofi werden möchten.

Die Schweizer Traumberufe-Top-Ten werden regelmässig und wissenschaftlich erhoben. Eine Umfrage ergab die folgenden Traumberufe-Top-Ten für Buben und Mädchen. (NFP 43 „Bildung und Beschäftigung“):

Junge Männer: Pilot, Polizist, Fussballprofi, Buschauffeur, Lokomotivführer, Automechaniker, Bauer, Astronaut, Koch, Schauspieler.

Junge Frauen: Lehrerin, Tierärztin, Krankenschwester, Kindergärtnerin, Sängerin, Ärztin, Coiffeuse, Polizistin, Floristin, Schauspielerin.

Es ist tatsächlich ein Glück, die eigene Berufung leben zu können. Ein Glückspilz ist, wer das ausleben kann, was er wirklich gern tut, und damit auch noch den Lebensunterhalt zu bestreiten imstande ist.

Text und Foto (Archivbild): Kurt Schnidrig