Nur eine Umarmung, bitte!

Wir Männer sind doch echt arme Kerle. Wir sind einsam. Wir sind voller Hunger nach Liebe. Wir sehnen uns nach einer Umarmung. Das schreibt Jolanda. Heute hat Jolanda für meinen Literatur-Blog extra eine Kurzgeschichte geschrieben. Die Kurzgeschichte handelt von einem echt armen Kerl, der sich von einer schönen Frau eine Umarmung holt. Danke, Jolanda, für deine wunderbare Kurzgeschichte. Bevor Sie nun aber Jolandas Kurzgeschichte zu lesen bekommen, stelle ich Ihnen meine liebe Kollegin vor – wir kennen uns von den gemeinsamen Chorproben für die „Briger Musiknächte“.

Jolanda Brigger-Ruppen (Bild) ist in Grächen in einer Hotelierfamilie aufgewachsen und war in der Tourismusbranche tätig. Sie schreibt Lyrik und Prosa. Für das Lyrikbuch „Zeit der Erkenntnis“ hat sie den Kulturförderpreis der Raiffeisenbank Mischabel-Matterhorn erhalten. Für die Gedichtsammlung „Und mittendrin die Soldaten“ wurde ihr der Anerkennungspreis der Walliser Autoren deutscher Sprache WAdS zugesprochen.

Der Protagonist in Jolanda Briggers Kurzgeschichte heisst Beat Wattenhofer, und der ist einsam und voller Hunger nach Liebe. Und als wieder mal so ein langes Wochenende ansteht, da hofft Beat, vielleicht doch einmal eine hübsche Frau anzutreffen. Bis dato kennt Beat die hübschen Frauen nur aus Büchern über und um die Liebe. Aber dann kann er sein Glück kaum fassen: Eine wunderschöne Frau, ganz in rot gekleidet, bietet ihm, Beat, gratis Umarmungen an… Doch lesen Sie selber die Geschichte, die Jolanda Brigger-Ruppen für die Leserinnen und Leser des rro Literatur-Blogs geschrieben hat. Die Geschichte trägt den Titel „Aulingen, Wadenbeisserplatz“, und ich veröffentliche sie ungekürzt und mit einem lieben Dank an Jolanda.

 

Jolanda Brigger:

Aulingen, Wadenbeisserplatz

Wattenhofer kippt die Rückenlehne seines Bürostuhls nach hinten und legt den Kopf in den Nacken. Er hört Fanny „Schönes Wochenende“ sagen, seine Stimme antworten mit „Danke, Ihnen auch.“ Er hebt den Kopf, sieht seine Sekretärin Richtung Tür staksen. Das Klacken ihrer Schuhe gefällt ihm, die schlanken Beine sehr, nicht aber, dass sie ins Wochenende gehen. Er hasst Wochenende.

Wochenende heisst für ihn, den Zeitraum zwischen dem Abschluss der Arbeitswoche und dem Beginn der neuen Arbeitswoche allein verbringen zu müssen. Er atmet tief durch, kippt die Rückenlehne wieder nach vorne, schält sich aus dem Stuhl und schlurft zum Fenster. Blickt hinab in die Strassenschluchten, durch die sich hupende Autoketten winden. Ein paar Minuten beobachtet er den Zeitkrieg da unten.

Wattenhofer braucht sich nicht zu beeilen, er kann sich Verspätung leisten, muss nicht genau dann zu Hause erscheinen. Auf ihn wartet niemand, nicht mal ein stummer Fisch im Aquarium. Es geschieht oft, dass er das Wochenende im Büro verbringt. Dass er es nur aus Hunger oder Durst verlässt, aus Hunger nach Bier und Durst nach irgendwelchen Würsten, Hamburgern, nach Pizza. Und natürlich alles immer mit Majo oder Ketchup, oder Senf, egal was, Hauptsache mit etwas dazu. Er glaubt, dass das Etwas dazu ihm seine Einsamkeit umbringt, und er findet das gut und fein, fein und gut wie all die Würste, Pizzen und Hamburger.

Roboterhaft lässt er den unaufgeräumten Bürotisch hinter sich, im Korridor wartet er auf den Lift, hofft, eine hübsche Frau anzutreffen, aber der Kasten ist voll von Leere. Mit knurrendem Magen erwartet Wattenhofer das Aufblinken des E. Die offene Lifttüre weist ihm den Weg zum Ausgang des Bürokomplexes, draussen hört er einen Adretten dem anderen Adretten zurufen: Ja, ich werde dort sein, bis dann! Wattenhofer überquert fluchend die stinkende Strasse.

Er stellt seine Füsse auf die Rolltreppe. Vor ihm schwebt eine Brünette, die ihm viel zu mager vorkommt, aber er denkt, dass ein vegetarischer Lustriegel immer noch besser wäre als gar nichts. Die Frau wirft ihre Haarfahne über die Schultern, so dass es rundum nach Limette riecht.

Er schluckt trocken, hat die von der Decke herabhängende Dekokuh mit dem La-vache-qui-rit-Lächeln im Bild. Er, gestatten – Beat, Beat Wattenhofer – würde dasselbe Lächeln aufsetzen, wenn er nicht wieder mal so mies drauf wäre; und wie bitte ein Kuh-Lächeln aufsetzen, wenn man sich tierisch anders fühlt?

Die Rolltreppe bugsiert ihn unsanft in die Empfangshalle der Stadt, ihm ist überhaupt nicht nach Gehen zumute. Er schert drei Schritte nach rechts aus, bleibt stehen, sieht den Lustriegel im Menschenstrom untergehen. Die an ihm vorüberziehende Fleischmasse trägt Sommer, verströmt Urwaldduft. Himmel nochmal, ich brauche endlich ein Bier, ein Bier mit dem besten Schäumchen ever!

In Gestalt und Bewegung gar nicht wunderwürdig, macht er sich auf in Richtung Altstadt: Letzthin hat ihn vor dem Mac-Donalds-Werbeplakat ein Heisshunger so niedergedrückt, dass er sich am liebsten mit der angebrochenen Cumuluskarte die Pulsadern aufgeschnitten hätte.

Mit der Vorstellung, als Leiche vom Ausfliessen des Blutes immer leichter und bleicher werdend, war er wie ein nasses Leintuch auf den Boden geklatscht, und die Erde hatte sich fühlbar um ihn gedreht. Aber niemand war zu ihm hingeeilt und hätte ihm unter die Arme gegriffen. Dass sie es unterliessen, einem Bullen von Tölz auf die Beine zu helfen, das verzieh er den Vorübergehenden, die abwartenden Blicke hingegen verletzten ihn. Da war er trotzig sitzen geblieben, hatte zwei Zigaretten geraucht und einen Schnupf genommen, während die Sonne auf seiner Glatze wütete. Mit angereichertem Blut war es ihm schlussendlich gelungen, sich ohne helfende Hand zu erheben.

Er hat in seinem Leben schon einiges gehabt: Eltern, Klavierlehrer, Blechschäden, Arbeitsplätze, Bürostühle – aber eine Liebe hat er noch nie besessen, und die wahre erst recht nicht. Stattdessen verschlingt er Bücher über und um die Liebe, wonach seine Tage noch mehr aus Vermissen und Sehnsucht nach schonender Beachtung bestehen. Und seit dem Tod von Tante Lea ist sein Leben sinnlos wie nie zuvor, oh, wie ihm Maispizza fehlt, der Kaffeeduft.

Beat lässt sich steuern von der Lust nach dem Schäumchen, sein Körper hebt ihn ab aus der Masse der Menschen, die vorübereilen, ihn anrempeln. Er gelangt zum Wadenbeisserplatz, sieht in dessen Mitte Leute stehen, die Schilder in den Händen halten. Gratis Umarmungen für alle no exceptions, steht auf den Schildern. Die drei Frauen und zwei Männer tragen gelbe, beschriftete T-Shirts. Entreinte gratuite. Abracci gratis. Together we are strong. 

Spinner, die einmal mehr auffallen müssen, ist Beats erster Gedanke. Jedoch, er bleibt stehen, seine Neugier zwingt ihn, die Spinner zu beachten, und er setzt sich auf die Ruhebank neben den Banker, den er kennt, geniesst er sein Schäumchen doch auch immer im „Pepo“.

Tag, grummelt Beat.

Hallo.

Was geht  denn da ab?

Die umarmen einander. – Der Banker kichert jungenhaft.

Umarmen? Wer? Wen?

Die Plakatschwenker die Passanten, und andersrum.

Wozu das denn?

Was weiss ich. – Romano zuckt mit den Schultern. Guck, jetzt geht eine hin zum Plakatmann mit dem Schnurrbart!

Beat sieht, wie eine Frau auf den Schnurrbartmann zugeht und ihn umarmt, herzlich und hemmungslos. – Äh, ist doch Show, die kennen sich sicher! – Wattenhofers Stimme klingt alt, fast wie das Knarren einer Türe.

Ne, bestimmt nicht, ich sitz jetzt schon über eine halbe Stunde hier und sehe, wie die Leute zu denen hingehen und sich gratis umarmen lassen.

Gratis umarmen? Seit wann kosten denn Umarmungen? Gratis bekommen da höchstens die Aktionisten was, die ziehen den Leuten doch die Geldbörsen aus den Hosentaschen! Wie blöd sind denn die?

Dacht ich zunächst auch, aber ne, nix so. Die nehmen die nicht auf den Arm, sondern in den Arm. – Der Banker grinst breit, knufft Beat in die Seite.

Sieh, die umarmen sich einfach! Lachen. Reden ein bisschen. Manche sagen nichts, gehen weiter. Aber strahlen tun sie alle, und wie relaxed sie wirken! – Zu der Frau mit dem roten Rock gehen am meisten Leute hin.

Jaja, rot ist immer noch d i e Signalfarbe für uns Männer. Als wir noch Affen waren, sind wir ja auch auf die rotgeschwollenen Ärsche der Weibchen geflogen.

Klar, aber zu der gehen nicht nur Männer hin, auch Frauen genauso oft. Schau die Blonde, richtig zielstrebig geht die hin, und jetzt, drückdrück, Arm um, und um …

….  und Friede, Freude, Mutterkuchen, was?

Nach ein paar Sekunden Schweigen sagt Romano: Ein Schäumchen, wenn du‘ s machst.

Ne, du Blödmann!

Zwei Schäumchen.

Ne!

Drei?

Neeeein!

Letztes Angebot! Eine Woche lang jeden Tag ein Schäumchen mit mir im Pepo – auf meine Rechnung!

Lustig bist, echt! Naja, mit Nichtfreunden kann man’s schon so treiben, hast ja nichts zu verlieren mit mir!

Nein, im Ernst, das Angebot gilt, wenn du’s machst. Komm schon, sei kein Frosch und schlag ein!

Beat hebt den brütenden Blick, schraubt den Oberkörper eine Winzigkeit zum Banker hin. Und drückt die dargebotene Hand. OK, ich mach’s!

Dann steht er auf, setzt sich schwerfällig in Bewegung. Eigentlich empfindet er Gleichgültigkeit, die ihn immer befällt, wenn er morgens ins Büro fährt. Auch beeilt er sich nicht sonderlich, wie immer. Schnelle Bewegungen legen ihn eh nur flach. Er sieht, dass einige Leute wie eingeschüchterte Tauben einen Bogen um die Plakatschwenker machen; haben wohl keine Zeit, oder sie finden die Aktion schlichtweg blöd. Etwas in Beat schaltet um auf „Halt!“, er blickt hin zu Romano, der von den Füssen her bis hinauf zu den Haarspitzen irgendwie in Bewegung ist. Den Banker schüttelt es richtiggehend. Vor Lachen.

Beat kickt eine zerdrückte Aluminiumdose von sich, ihr Inhalt liegt ihm metallisch im Magen. Ein Kopfschmerzfaden schlängelt sich an seiner Schläfe entlang, und plötzlich fühlt er sich anders als gerade noch, fühlt wieder mal die Erdumdrehung: Nein, du gehst nicht hin zu diesem lächerlich wirkenden Banker mit dem schütteren Ziegenbärtchen und fegst ihn über den Platz, du gehst hin zu de Plakatschwenkern, zu der mit dem roten Rock. Und eine ihn verwirrende Energie umgibt ihn, Pulsschlag und Gedanken überstürzen sich, er sieht sich über dem flimmernden Steinboden als Drohne vorübergaukeln, und die ganze Strassenbande nimmt Reissaus vor ihm, von allen Seiten.

Sein Blick ist jetzt nur noch starr auf den roten Rock gerichtet, und er steuert geradewegs auf die Frau zu. Im Lokal gegenüber spielt jemand „Hey Jude“ auf der Gitarre, Beat lacht laut auf, lallt: „Hey Jude, ich komme, jaaa, ich komme!“

Er zuckt zusammen, als er sieht, wie schön die Frau ist. Ihr Haar fliesst in glänzenden weichen Wellen über die Schultern, und rührend zarte Ohren stehen zu beiden Seiten des Kopfes ein klein wenig ab. Wie ebenmässig, wie hell ihre Haut ist… ihm wird ganz bärig! Hat sie gerade, oder hat sie nicht … ? Hat sie nicht soeben mit der Zungenspitze die rosigen Lippen umfahren?  – Es ist ein Schwirren in seinem Kopf, Phantasien gaukeln ihm rosarote Dinge und Welten vor, erzeugen Wünsche und Begierden. Und plötzlich steht er so nahe vor Hey Jude, dass er ihren Atem spürt. Er liest Sanftmut in ihren jadegrünen Augen, aber auch Unbestechlichkeit. Beat überlegt, ob sie wohl auch etwas aus seinen Augen liest, vielleicht, wie einsam er ist, wie sehr er sich danach sehnt, dass endlich Liebe in ihn sickert. Unwillkürlich senkt er seinen Blick, sieht dass Hey Jude’s winzige Füsse in Sandalen aus Autoreifen stecken.

Beinahe hätten ihn seine Gedanken die Umarmung vergessen lassen. Im letzten Augenblick hatte er die Arme ausgeklappt und sie mechanisch um Hey Jude gelegt, und sie hatte seine Geste mit leichtem Druck erwidert und „Hallo, ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Tag“ geflüstert. Ob er auch etwas zu ihr gesagt oder geflüstert hat, weiss er nicht mehr. Aber randvoll mit Glück und Freude war er gewesen, das weiss er noch genau. Und seither läuft er selig lächelnd nur noch in Sandalen aus Autoreifen herum; und stets ist ihm, als wäre er über unsichtbare Fäden mit der ganzen Menschheit verbunden.

Kurzgeschichte: Jolanda Brigger

Text und Foto: Kurt Schnidrig