Spekulative Fiktion

Als ich während der Frankfurter Buchmesse der berühmten Paulskirche einen Besuch abstattete, da war sie noch fast menschenleer (Bild). Kaum zu glauben, dass der nüchtern wirkende Raum nur wenige Tage später im Zentrum der Weltöffentlichkeit stehen sollte. Am vergangenen Sonntag wurde darin der Friedenspreis an die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood verliehen. Seitdem die Paulskirche 1944 den Bomben zum Opfer fiel, wird sie nicht mehr als Kirche genutzt, sondern für staatliche Veranstaltungen. Am bekanntesten ist die Verleihung de Friedenspreises im Rahmen der jährlichen Frankfurter Buchmesse. Nach dem Krieg haben sich die grossen politischen Parteien darin gegen eine Wiederbewaffnung und damit für den Frieden entschieden.

Als „kanadische Königin“ wird Margaret Atwood, Trägerin des diesjährigen Friedenspreises, auch geehrt. Ihr Werk besteht aus Romanen, Kurzgeschichten, Essays, Lyrik, Theaterstücken und Drehbüchern. Margaret Atwood, 78, ist ungeheuer produktiv und mit allen möglichen Preisen überhäuft. Bereits mit ihrem Erstling „Die essbare Frau“ etablierte sie sich als Schriftstellerin, die es versteht, gesellschaftliche Problemzonen in eine nahe Zukunft hochzurechnen. Sie setzt sich in ihren ersten Romanen mit dem Rollenverständnis von modernen Frauen auseinander.

Als spekulative Fiktion oder „Speculative Fiction“ bezeichnet sie ihre Erzählungen. Sie meint damit, dass ihre Geschichten der Realität viel näher seien. Deshalb verweigert sie sich der üblichen literarischen Etikettierung „Science-Fiction-Autorin“. Ein typisches Beispiel für ihre literarische Technik der spekulativen Fiktion ist der Roman „Der Report der Magd“, der bereits in den 80er-Jahren erschienen ist und als Bestseller den grössten Erfolg erzielte. Darin beschrieb Margaret Atwood eine totalitäre Gesellschaft, in der Frauen als Gebärmaschinen benutzt und unterdrückt werden. Eine fundamental-christliche Bewegung hat die USA in eine Gesellschaft verwandelt, in der Frauen vollständig dem Mann unterworfen sind, und in der das Gebären ihre einzige Pflicht ist.

Mit Donald Trump hat Margaret Atwoods spekulative Fiktion über Frauenfeindlichkeit noch an Brisanz gewonnen. Die Nachfrage nach Atwoods Roman „Der Report der Magd“ stieg während seines Wahlkampfs sprunghaft an. Der spekulative Roman wurde von Volker Schlöndorff mit dem Titel „Die Geschichte der Dienerin“ verfilmt. Wohl auch deswegen erfährt der Roman heute in der US-amerikanischen Gesellschaft ein Comeback. Der Roman ist plötzlich wieder in den Bestsellerlisten anzutreffen.

Humanität und Toleranz würde das Schreiben von Margaret Atwood prägen, begründete die Jury die Verleihung des Friedenspreises an Margaret Atwood in der Frankfurter Paulskirche. Sie blicke mit grosser Menschenkenntnis auf die Welt und formuliere ihre Analysen literarisch und sprachgewaltig.

US-Präsident John F. Kennedy sprach 1963 in der Paulskirche zu Frankfurt. In seiner Rede bezeichnete er die Paulskirche als die „Wiege der deutschen Demokratie“. Vielleicht wird auch der amtierende US-Präsident die Paulskirche demnächst besuchen? Oder ist das jetzt „Speculative Fiction“, um mit Margaret Atwood zu sprechen?

Text und Foto: Kurt Schnidrig