Liebste Orte zum Schreiben

Wo arbeiten und schreiben Sie am liebsten? Gibt es liebste Orte zum Schreiben? Diese Frage stellte sich mir, als ich mich kürzlich in der früheren Wohnung des Literatur-Nobelpreisträgers Hermann Hesse in Montagnola im Tessin aufhielt. Die Balkontür vor seinem Schreibtisch war von Mai bis September immer geöffnet, davor hängt ein kleiner Steinbalkon, der die Perspektive weitet und den Blick frei gibt auf eine grossartige Landschaft (Bild).

Wie sehr dieser liebste Ort das Schreiben des Nobelpreisträgers für Literatur beeinflusste, mag ein Zitat belegen: „An der Ostwand meines Wohn- und Arbeitszimmers ist eine schmale Balkontüre, die steht vom Mai bis tief in den September hinein Tag und Nacht offen, und davor hängt ein winziger Steinbalkon, einen Schritt breit und einen halben Schritt tief. Dieser Balkon ist mein bester Besitz. Seinetwegen habe ich mich vor manchen Jahren entschlossen, mich hier niederzulassen, seinetwegen kehre ich nach allen Reisen immer wieder mit einer gewissen Dankbarkeit hierher in meine Tessiner Wohnung zurück.“ (Aus: Abendwolken, 1926).

Gibt es liebste Orte zum Schreiben?  Zu Hause ist es vielleicht am gemütlichsten, aber nicht immer am kreativsten. Es sei denn, man verfügt, wie damals der Schriftsteller Hermann Hesse, über einen ausgesprochen inspirierenden Arbeitsplatz. Die immer geöffnete Balkontüre und der grosse Schreibtisch mit Blick auf die Tessiner Berge und Hügel beflügelte seine Phantasie und löste seine Schreibblockaden. Doch manchmal braucht es auch einen Platzwechsel. Um beim Schriftsteller Hesse zu bleiben: So sehr er auch seinen schönen Arbeitsplatz schätzte, manchmal wurde ihm das Haus zu eng: „Jede Erfüllung wurde schnell zur Sättigung. Sattsein aber war das, was ich nicht ertragen konnte. Verdächtig wurde mir das Dichten. Eng wurde mir das Haus. Kein erreichtes Ziel war ein Ziel, jeder Weg war ein Umweg, jede Rast gebar neue Sehnsucht.“ (Aus: Wanderung, Rotes Haus, 1918/19).

Zum Schreiben braucht es inspirierende Arbeitsplätze. Mein Schreibtisch gibt den Blick frei auf den Simplon und den Rosswald, an schönen Tagen sehe ich bis auf die Belalp und bis hinauf zum Bettmerhorn. Doch manchmal reicht das wundervolle Panorama nicht aus. Manchmal hilft einzig, in die Ferne zu reisen. Fernab von allen Gewohnheiten und weit weg vom eingespielten Alltag eröffnen sich neue Kreativ-Welten. Egal ob in einem Cottage in Cornwall, in einer Jurte in der Mongolei, in einer griechischen Taverna oder in einem Schlösschen hoch über dem Luganer See.

Den liebsten Ort zum Schreiben und Arbeiten gibt es nicht, denn es gibt viele liebste Orte zum Schreiben und zum Arbeiten. Genauso wichtig ist jedoch auch immer die Rückkehr an den liebsten Ort zu Hause. Dahin kehrt man nach allen Reisen immer wieder mit einer gewissen Dankbarkeit zurück.

Text und Foto: Kurt Schnidrig