Sprache des Herzens

Wann haben Sie, liebe Leserin, lieber Leser das letzte Mal einen Liebesbrief bekommen? Schön von Hand geschrieben? Sie wissen es vermutlich ganz genau. Denn das Briefeschreiben ist aus der Mode gekommen. Und wenn jemand sich die Mühe macht, einen Brief von Hand zu schreiben, ihn womöglich noch zu verzieren und damit zur Post zu laufen, dann darf man sich der Aufmerksamkeit der Empfängerin oder des Empfängers sicher sein. Heute allerdings ist der papierene Liebesbrief ein romantisches Relikt aus vergangenen Zeiten. An seine Stelle sind visuelle Whatsapp-Nachrichten getreten, auch SMS oder ellenlange E-Mails.

Briefe aus Papier, in der Sprache des Herzens geschrieben, waren in früheren Jahrzehnten heiss begehrt. Mit Goethes „Werther“ hat das Schreiben von Liebesbriefen so richtig Fahrt aufgenommen. Es war dies der erste moderne Roman, und er berührt noch heute das Herz der Leserinnen und Leser, so, als wäre er heute erlebt. Die Briefe von Werther an Lotte sind Kult geworden und sind immer noch Vorlage für viele Liebesbriefe. Das „Herz“, das ist das Wort, das in den Briefen des jungen Werthers immer wieder vorkommt. Die Rede ist ausschliesslich von der Liebe, genauer gesagt: von einer Liebe. Und diese Liebe führt zum Tod, weil sie unbedingt ist.

Die zwei Kulturhistorikerinnen Ingrid Bauer und Christa Hämmerle haben für das Buch „Liebe schreiben“ Tausende von Liebesbriefen gelesen und analysiert. Die Paarkorrespondenzen sind zwischen 1870 und 1980 entstanden. Es geht darin um die ewigen Themen wie Trennung und Abschied, Freuden des Wiedersehens, Sehnsucht und Eifersucht, Liebesleid und Liebesglück.

Fast ein wenig wie Lotte in Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ fordert eine stürmische Lotte unserer Tage Küsse: „Bitte beginne mit zärtlich und dann gehe das Register durch bis wild und wieder retour.“ Da schliesst sich irgendwo der Kreis dieser Kulturgeschichte des Liebesbriefs.

Die Briefe widerspiegeln auch die Einflüsse und Strömungen der verschiedenen Epochen. Verschiedene Vorstellungen von Paarbeziehungen, von Liebe und von Zukunftsplanungen zu zweit lösen sich ab. Ab der Mitte des vorigen Jahrhunderts beginnen sich die Geschlechterrollen zu wandeln. Die Frauen beginnen sich zu emanzipieren und wünschen sich auch mal ein Zusammenleben ohne Trauschein oder nach einem lediglich kollegialen Konzept. Während der grossen Krisen oder während der Kriegszeiten wurden Konflikte in der Beziehung zurückgestuft. Die Verliebten versuchten in ihren Briefen eine motivierende und beglückende Stimmung zu verbreiten.

Was geblieben ist, das ist die Liebe als ein grosses Mysterium. Früher wie heute ist sie weder zu fassen noch zu beschreiben. Vielleicht ist die Liebe aber gerade deswegen das beherrschende Thema in Literatur, Film und Theater.

Text und Foto: Kurt Schnidrig

Literatur: Ingrid Bauer, Christa Hämmerle (Hrsg): Liebe schreiben. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017. 359 Seiten.