Twittern mit Obama

In der vergangenen Woche hat Barack Obama den Rekord für die meisten Likes auf Twitter gebrochen. Das ist sicher ein Grund, dem ehemaligen US-Präsidenten einen Besuch abzustatten. In seiner freundlichen Art überliess er mir seinen Schreibtisch und stellte sich artig für ein Selfie daneben (Bild). Gut, ich muss dazu sagen: Ich traf Barack Obama in der Marylebone Road in der City of Westminster in London. Bei Madame Tussauds, im Wachsfigurenkabinett. Obiges Foto ist also kein Fake. Einzig Ex-Präsident Obama ist aus Wachs.

Über drei Millionen Mal wurde der Tweet von Barack Obama seither favorisiert. Das ist neuer Rekord. Den bis dahin beliebtesten Tweet verfasste die US-Sängerin Ariana Grande nach dem Anschlag auf eines ihrer Konzerte in Manchester. Nach den privaten Blogs ist das Twittern eine neues Feld der privaten Kommunikation, das Stars wie Demi Moore, Lilly Allen oder Perez Hilton enthusiastisch bewirtschaften. Das textuelle Endergebnis des Twitterns ist der Tweet. Ein Tweet ist somit die kleinste literarische Form, denn er ist begrenzt auf 140 Zeichen.

Einige müssen dicke Bücher schreiben, anderen genügt ein Tweet um ein Millionen-Publikum zu begeistern. Barack Obama hat ein dickes Buch auf einen Tweet reduziert. Nach den gewaltsamen Ausschreitungen in der US-amerikanischen Stadt Charlottesville twitterte er ein Zitat aus der Autobiografie des Anti-Apartheid-Kämpfers Nelson Mandela: „Niemand hasst von Geburt an jemanden aufgrund von dessen Hautfarbe, dessen Herkunft oder dessen Religion.“ Unter die Kurznachricht kopierte Obama ein Foto, auf dem er zusammen mit Kindern unterschiedlicher Hautfarbe zu sehen ist.

Obamas Anti-Hass-Tweet widerspiegelt die Empörung in den USA über die Ausschreitungen von Charlottesville. Die Zahl der Neonazis und der Rechtsradikalen in den USA nimmt in bedenklichem Ausmass zu. Gemeinsam ist der „alternativen Rechten“, der „Alt-Right“, ein politisches Programm, das die – in ihren Augen – genetisch bedingte Überlegenheit der Weissen über alle anderen Rassen durchsetzen will. Den erneuten Aufstieg verdanken die Rechtsradikalen auch den sozialen Medien . Die sozialen Medien ermöglichen es ihnen, sich abzusprechen, sich gegenseitig zu inspirieren und sich zu organisieren.

Ermutigt durch den grossen Erfolg seines Anti-Hass-Tweets, setzte Obama zu den Vorkommnissen in Charlottesville noch weitere Tweets ab. Der eine Tweet hat philosophischen Charakter. Obama bediente sich erneut in der Autobiografie von Nelson Mandela und twitterte: „Menschen müssen lernen zu hassen, und wenn sie hassen lernen können, dann kann man sie auch lernen zu lieben … denn Liebe empfindet das menschliche Herz viel natürlicher als ihr Gegenteil.“

Was aber hat den ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama zum Twittern veranlasst? Wohl die Angst und die Sorge wegen der vielen Rechtsradikalen, die dem landesweiten Aufruf „Unite the Right“ gefolgt und nach Charlottesville, Virginia, gepilgert waren. Zündender Funke im Pulverfass war die Entfernung eines Denkmals für den Südstaaten-General Robert E. Lee. Das Denkmal war für viele Rechtsradikale ein Symbol der weissen Kultur. Für Kritiker sind diese Denkmäler jedoch Steine des Anstosses.

Bereits vor fünf Jahren twitterte Obama nach seiner Wiederwahl:  „Four more years“. Obama stellte auch ein Foto zum Text dazu. Das Foto zeigt ihn eng umschlungen mit Ehefrau Michelle. Sowas schafft Emotionen und bringt die grosse Twitter-Gemeinde dazu, ihre Tweets abzuschicken.

Die Literatur-Stunde von Barack Obama lehrt uns das Folgende: Auch die kleinste literarische Form kann grösste Wirkung zeigen. Statt dass Promis auf 140 Zeilen lediglich ihre eigenen Songs und Auftritte promoten, könnten sie sich per Twitter vermehrt auch grossen Themen zuwenden.

Der Tweet dürfte seit Obamas „Anti-Hass-Tweet“ als literarische Kurzform an Bedeutung gewinnen. Oftmals genügt eine gute Idee und eine eingeschränkte Anzahl von Buchstaben, um die Welt zu bewegen. Manchmal bietet das Twittern gar die Möglichkeit, mit einem Promi oder mit einem Idol direkt in Kontakt zu treten.

In diesem Fall würde sich ein Treffen mit Barack Obama im Wachsfigurenkabinett von Madame Tussauds in der Marylebone Road in London erübrigen.

Text und Foto: Kurt Schnidrig