Fluchtpunkt der Sehnsucht

Es ist erstaunlich in wie vielen Romanen die Stadt New York als Traumdestination und als Fluchtpunkt der Sehnsucht erscheint. Nicht wenige Romanfiguren tragen den Traum in sich, in New York eine neue Identität zu finden. Im Roman „Hundert Stunden Nacht“ von Anna Woltz ist es eine junge Frau, die den Wunsch nach einer eigenen Geschichte ausleben möchte. Emilia hat ihr Zimmer seit langem mit der Skyline von New York tapeziert. Mit der Flucht nach New York möchte sie auch dem Alltag ihrer spiessigen Kleinstadt entfliehen.

Nun ist es mit New York so eine Sache. Für die einen gibt die Traumdestination alles her, was sie sich gewünscht haben. Ob die Vorstellungen erfüllt werden, ist auch abhängig von den Erwartungen, die man im Vorfeld der Reise aufbaut. Meine kürzliche Reise nach New York war ein Erfolg, sicher auch deswegen, weil ich eine äusserst motivierende Begleiterin an meiner Seite hatte. Vielleicht sollte man sich im Big Apple auch gar nicht allzu viel vornehmen. Meine Wunschdestination war einzig der Broadway, wo uns die Regiearbeit an den grossen Musicals wie „Chicago“ faszinierte.

Doch zurück zum Roman „Hundert Stunden Nacht“. Die Protagonistin Emilia hat bei weitem nicht so viel Glück. Erst entpuppt sich das gemietete Appartement als Internetschwindel, und dann bringt auch noch Orkan Sandy Verwüstung und Vernichtung mit sich. Für Emilia wird New York zu einer Schattenstadt, die leider fast gar nichts zu tun hat mit ihren Träumen von Freiheit und Unabhängigkeit. Dagegen trifft sie auf einen unerklärlichen Egoismus der Menschen im Schmelztiegel New York. Die junge Frau entpuppt sich als ein Kind der digitalen Revolution, die Sehenswürdigkeiten der Grossstadt interessieren sie weit weniger als das nächste Gratis-WLAN. Der Roman endet damit, dass Emilia einen eigenen, sehr speziellen Reiseführer schreiben wird: „Mit dem Stecker unterwegs: Die 100 besten Steckdosen von New York“.

Für mich ist das kein Happy End für einen New York – Roman. Das ist zu simpel und zudem auch recht unglaubwürdig. Ich habe New York erlebt als eine Stadt der Freundlichkeit und der Solidarität. Und ein Steckdosen-Problem habe ich nun wirklich nicht ausmachen können, auch dann nicht, als wir die Nacht zum Tag gemacht haben.

Literatur: „Hundert Stunden Nacht“ von Anna Woltz. Carlsen Verlag 2017. 253 Seiten.

Zum Bild: New York by Night. Foto: Kurt Schnidrig.