Das Wunder des Laufens

Am vergangenen Sonntag stand ich wieder einmal am Start des Aletsch Halbmarathons. Nachdem ich früher schon fast süchtig nach dem wettkampfmässigen Laufen war, hatte ich mich in den letzten Jahren anderen, eher kopflastigen Projekten zugewandt. Einer der Auslöser für mein Comeback war ein neues Lauf-Buch , das meine eigenen Beobachtungen über den Langstreckenlauf bestätigt: Es gibt einen Zusammenhang zwischen sportlicher Leistung und geistigem Höhenflug.

Bedingung ist allerdings, dass man ohne verbissenen Ehrgeiz läuft. Deshalb strebte ich eine durchschnittliche Laufzeit an. Für die 21,1 Kilometer von der Bergstation auf 1950 Meter führte der Lauf zur Rieder Furka und entlang dem Aletschgletscher bis hinauf auf den Grat des Bettmerhorns auf 2650 Meter (Bild).  Mit der Zeit von 3 Stunden und 12 Minuten war ich im ersten Drittel der 3000 Läuferinnen und Läufer. Nebst der Verbesserung der Fitness stellt ein solcher Lauf auch noch ganz andere, vor allem psychische Ressourcen bereit. Doch davon später.

Angefangen habe ich mit dem Laufen in den 90er Jahren. Mit angehenden Lehramtskandidatinnen durfte ich eine Herbstwoche in einem leerstehenden Kloster inmitten der Tessiner Kastanienwälder verbringen. Wir hatten uns alle riesig auf diese Intensivwoche gefreut. Doch plötzlich lief uns alles aus dem Ruder. Hatten wir auf eine wohltuende und stressabbauende Wirkung in der Einsamkeit gehofft, trat genau das Gegenteil davon ein. Die Abgeschiedenheit traf uns alle wie eine Keule, der Lagerkoller verwandelte vernünftige junge Menschen innert kürzester Zeit in depressive Klinikanwärter. Eine dunkle und gewittrig-schwüle Nacht brach an voller nutzloser Gespräche. Da waren gleichen mehrere Welten aus den Fugen geraten.

Als die Sonne aufging, schnürte ich meine Laufschuhe und lief eine Stunde lang allein durch die prächtigen Kastanienwälder. Als ich zurück kam, fühlte ich mich zwar körperlich müde, aber zuversichtlich und glücklich, so dass ich innert kürzester Zeit die angespannte Situation im Lager beruhigen konnte. Diese Sternstunde im Tessin hat mich zum Läufer gemacht.

Was war mit mir während des Laufens in den Tessiner Kastanienwäldern geschehen? Eine Antwort fand ich im ganzheitlichen Kommunikationsmodell. Wer eine physische (körperliche) Leistung erbringt, der beeinflusst seine emotionale Gestimmtheit und diese wiederum beeinflusst das Kognitive, also die Denkleistung. Wie aber hängen diese drei Ebenen zusammen? Diese Frage sollte mich über Jahre beschäftigen.

Welche sportliche Leistung muss ich erbringen, damit dadurch eine geistige Aktivität begünstigt wird? Wie kann das sportliche Laufen zum Beispiel eine Examensvorbereitung unterstützen? Wie intensiv muss der physische Stimulus sein, damit er die emotionale Gestimmtheit beeinflussen und die kognitive Leistung verbessern kann? Ich tat mich mit einem Kollegen der ETH Zürich zusammen, um wissenschaftliche Antworten auf diese Fragen zu finden. Ich habe eine Formel entwickelt, die angibt, wie viel physische Leistung vonnöten ist, um das emotionale Korsett ideal zu beeinflussen und die kognitive Leistung optimal zu unterstützen und zu fördern.

Ein neues Buch stützt nun meine Forschungen von damals. Professor Ulrich Bartmann von der Fachhochschule Würzburg kommt in seinem Buch „Laufen und Joggen für die Psyche“ zu ähnlichen Ergebnissen. Dabei stützt er sich auf Cattels Faktorenmodell. Dieses Modell basiert auf 16 einzelnen Faktoren, die der Forscher Cattel mit dem 16-Persönlichkeits-Faktoren-Test, kurz 16PF, erfasst. Die 16 Einzelwerte ergeben das Persönlichkeitsprofil eines Menschen.

Mit dem 16PF-Test wurde eine Vielzahl von Studien an Läufern durchgeführt. Fasse ich die verschiedenen Dimensionen des Cattelschen Modells zusammen, erhalte ich folgendes Persönlichkeitsbild des typischen Läufers. Läuferinnen und Läufer sind:

  • intelligent und zuverlässig,
  • emotional stabil und reif,
  • ernst, aber trotzdem phantasievoll,
  • selbstsicher und nicht abhängig von Gruppen,
  • entspannt und locker

Diese Eigenschaften – ich denke, mit denen kann man sich sehen lassen – dürfen nach den umfangreichen wissenschaftlichen Untersuchungen als die Merkmale gelten, die bei Läufern stärker ausgeprägt sind als bei Nichtläufern (Bartmann: Laufen für die Psyche, S. 27).

Meine persönliche Schlussfolgerung: Wer die gesamte Lebensplanung periodisiert und sich hin und wieder mit einer physischen Leistung einen emotionalen und kognitiven Kick verpasst, der führt ein interessantes, abwechslungsreiches, fantasievolles und kreatives Leben. Aus diesem Grund habe ich meine Laufkarriere im reifen Alter noch einmal neu lanciert.

Literaturangabe: Prof. Dr. Ulrich Bartmann: Laufen und Joggen für die Psyche. Ein Weg zur seelischen Ausgeglichenheit. dgvt Verlag. 128 Seiten.

Zum Bild: Im Aufstieg zum Bettmerhorn. Am Aletsch-Halbmarathon habe ich die Laufkarriere neu lanciert. Foto: zvg.