Literatur an der Maturafeier

Natürlich sind die Maturanden und Diplomanden die wichtigen Protagonisten an jeder Abschlussfeier. Wenn es allerdings gelingt, die Feier mit einer originellen Ansprache zu bereichern, dann wird aus einer ordentlichen Feier eine Abschiedsgala, die ein Leben lang in Erinnerung bleibt. Eine der schönsten Maturafeiern der letzten Jahre durfte ich am vergangenen Freitag in der Briger Simplonhalle erleben, dies dank einer auch literarisch wundervollen Rede von Gerhard Schmidt, Rektor am Kollegium Spiritus Sanctus. Seine Rede stützte sich gleich auf zwei Rilke-Gedichte. Die schön gesetzten literarischen Worte des Rektors haben mich zu persönlichen Interpretationen inspiriert.

Wunderbar passend zur Maturafeier des Kollegiums zitierte Rektor Gerhard Schmidt aus dem „Stundenbuch“ von Rainer Maria Rilke:  

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.

Wer die Matura bestanden hat, der hat einen weiteren wachsenden „Ring“ in seinem Leben erreicht. Nicht umsonst bescheinigen viele ehemalige Absolventen: In keiner anderen Lebenssituation weiss man über mehr Stoffgebiete Bescheid als anlässlich der Matura-Prüfungen. Einiges darf – glücklicherweise – schon bald wieder vergessen werden, was aber bleibt, das ist, was wir als „Allgemeinwissen“ bezeichnen. Das Allgemeinwissen beinhaltet viele weitere „wachsende Ringe“, welche im Laufe eines langen Lebens weitere Kreise ziehen werden.

Zu vergleichen sind die wachsenden Ringe mit einem Steinwurf in ein stilles Wasser, der immer weitere und grössere Kreise zieht. Einige ganz grosse Kreise am äusseren Rand wird man vielleicht nicht vollbringen. Sie bleiben Träume und Visionen, doch was wären wir ohne die Träume? Wir wären bloss arme Erbsenzähler. Deshalb ist es lebenswichtig, auch schier Unmögliches wenigstens zu versuchen.

An der Maturafeier des Kollegiums sorgte Rektor Gerhard Schmidt noch für einen weiteren literarischen Höhepunkt, indem er das Rilke-Gedicht „Der Panther“ in voller Länge rezitierte und damit sehr passend das grosse Festpublikum auch auf die besinnliche Schiene schickte:

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein grosser Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorrang der Pupille sich lautlos auf -, Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille – und hört im Herzen auf zu sein.

Rilkes einfühlsame Beobachtung eines Panthers im „Jardin des Plantes“ in Paris mit der Beobachtung von Studierenden zu vergleichen, mag auf den ersten Blick etwas mutig und gewagt erscheinen. Doch der Vergleich passt bei näherer Betrachtung bestens:

Man kann es drehen und wenden wie man will: Das Studium ist heutzutage sehr einengend geworden. Die früher oft besungene akademische Freiheit und „Burschenherrlichkeit“ ist nur noch ansatzweise zu spüren. Die Einengung durch die Stäbe des Käfigs übernehmen die Wirtschaft und die übervollen Lehrpläne. Wer unter wirtschaftlichem Druck allzu schnell Pseudo-Erfolge erzielen möchte, der ist im Bildungswesen wohl am falschen Platz. „Gehen Sie schnell, dann gehen Sie alleine. Gehen Sie langsam, dann gehen wir zu zweit“, zeigte Rektor Schmidt dem anwesenden Staatsrat die zwei Möglichkeiten auf. Selten habe ich deutlichere Worte an einer Maturafeier gehört. Richtig! Das Gras wächst nicht schneller dadurch, dass man daran zieht. Oder um mit Rilke zu sprechen: Wer sich im allerkleinsten Kreise dreht, der vollführt einen Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein grosser Wille steht.

Was das heutige Bildungssystem oftmals zu einem wahren Bildungsdschungel werden lässt. das ist die Tatsache, dass ständig neue Bildungsinhalte aufgebürdet werden, dass jedoch nicht „ausgemistet“ und „ausgejätet“ wird, was nachweislich wenig bringt und nicht mehr gefragt ist. So ist es denn wohl auch verständlich, dass viel Bildungs-Ballast zwar wahrgenommen wird, fürs Leben jedoch kaum Anwendungen bereit hält. In solchen Fällen „schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf-, dann geht ein Bild hinein (…) und hört im Herzen auf zu sein.“

Was bleibt, ist der optimistische Ausblick, dass trotz all der „Sachzwänge“ noch immer viel Energie vorhanden ist, bei den Studierenden ebenso wie bei den Lehrpersonen und bei der Schulleitung. Es ist dies dieser „Tanz von Kraft um eine Mitte, in der ein grosser Wille steht“. 

Zum Bild: An der Maturafeier des Kollegiums wartete Rektor Gerhard Schmidt auf der Leinwand mit grosser Literatur auf. Foto: Kurt Schnidrig.